Als ich meine Augen öffne stehe ich, zusammen mit Retsam, Yks und Ydna, vor den Statuen in Batátu. Wir sind nicht alleine. Auch Néiláti, der Wirt der getarnten Gaststätte, ist anwesend.

"Jetzt, wo meine wahre Identität enthüllt ist, werde ich die getarnte Gaststätte aufgeben und mir eine neue Tarnung ausdenken müssen.", sagt Néiláti betrübt. Als er sein letztes Wort gesprochen hat, verwandelt er sich in sein durchsichtiges Selbst namens Èppus.

"Jetzt weiß ich wenigstens, wieso meine Pläne den Rat zu hintergehen, immer gescheitert sind…", lacht Ydna. "…ich hätte bei dir nicht so viel Zotelwein trinken sollen!"

"Du wirst bestimmt schon bald eine neue Aufgabe finden.", ergänze ich in aufmunterndem Ton.

Retsam, der sich bisher zurückgehalten hat und seit der Verwandlung von Èppus im Gesicht rot, wie eine Nachttischlampe leuchtet, stammelt: "Kannst du uns sagen, wie wir zum Fluss Téodom kommen? Vater hat uns gesagt, dass hier der Eingang sein soll."

"Natürlich…", lächelt Èppus, der offensichtlich genau weiß, wieso Retsam rot im Gesicht wurde. "…Um in die Kammer zu gelangen, müsst ihr den Stab von Ilokórb elfmal gegen den Uhrzeigersinn drehen. … Seit vorsichtig. Direkt vor der Statue wird sich eine Falltüre öffnen. … Ich mache mich jetzt auf den Weg zu Onicchu. Er hat bereits angekündigt, dass er meine Hilfe benötigen wird. … Auf Bald!"

Nachdem wir uns von Èppus verabschiedet haben, stellen wir uns zu viert hinter die Statue von Ilokórb.

Ydna, der sich noch nie für die Statuen interessiert hat, scheint eine völlig neue Leidenschaft entwickelt zu haben. Wie wild dreht er den Stab, so schnell er kann, elfmal gegen den Uhrzeigersinn. Ein leises Knarren kündigt an, dass die Falltüre sich eben geöffnet hat.

"Sieh mal, es hat geklappt.…", stellt Yks beeindruckt fest.

"…Siehst du schon etwas?"

"Ja!…", sagt Ydna, der aufgrund seiner Körpergröße der Falltüre am nächsten ist. "…Ich sehe den Fluss und Ilokórb ist auch gut zu sehen. Nur wie kommen wir hier runter?"

Retsam beugt sich zur Falltür hinab, streckt seinen Kopf hindurch und brüllt: "Ilokórb, kannst du mich hören?"

"Ja, Retsam! Ich habe euch bereits erwartet! Benutzt einfach die Treppe, um zu mir zu gelangen!"

"Treppe?…", flüstert Ydna. "…Ich habe keine Treppe gesehen!"

Retsam zieht seinen Kopf aus der Öffnung, verwandelt sich in den Löwen und steigt mit seiner Pranke in die Öffnung. Seelenruhig steigt er eine unsichtbare Treppe hinab. Erst in Wolfsgestalt kann ich die Treppe auch sehen.

"Gegrüßet seist du, oh Ilokórb.", sagen wir, wie aus einem Munde.

"Hallo allerseits!", antwortet der Wächter des neutralen Flusses.

Er spricht ganz anders, als die anderen Wächter, denke ich mir, als Ilokórb zu antworten beginnt: "Ja, Äthyl! Ich bin anders, als alles andere das du kennst. Natürlich bin ich auch ein Neutrist und kann dir deshalb deine Fragen nicht beantworten, aber ganz ehrlich: Ich habe so selten Besuch in dieser Höhle, dass ich, wenn ich Leute da habe, so viel wie nur möglich kommunizieren möchte, und das mache ich eben so, wie mir der Schnabel gewachsen ist!"

Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube, dass das, was in seinem Gesicht Lippen andeutet, gerade lächelt.

"Nun…", spricht er weiter, "…Ich musste auf euch ja nur um die 19 Jahre warten. Ein Klacks im Vergleich zur Ewigkeit! … In dieser kurzen Zeit hatte ich nicht mal die Möglichkeit Quato-Braten und Zotelwein zu besorgen!…"

Sein Röcheln erinnert mich irgendwie an humorvolles Lachen.

"…Doch lasst uns ernst bleiben! Äthyl, du hast deine Erinnerung wieder und weißt, dass sich bald deine Prophezeiung so oder so, erfüllen wird. Wie immer der Kampf zwischen der positiven und der negativen Kraft enden wird, werden wir wohl oder übel unser Schicksal annehmen müssen. … Deine letzte Vision habe ich mir auch angesehen. Das Einzige, was dir helfen kann, ist ein Wunder. Dieses Wunder muss zum Einen die Flüsse Téodex und Téodin aufheben und zum Anderen die Flüsse neu entstehen lassen. … Ich habe so viel in euren Gedanken, Wünschen und Erinnerungen gelesen und beschlossen, meine Position im Rat der Ältesten aufzugeben…"

"Du hast was!?", schallt es, wie im Chor durch die Höhle.

"…So lange ich unparteiisch bin, werde ich euch nicht helfen können. Das ist der Grund dafür, wieso ich mich dazu entschlossen habe, für euch die erste Hälfte dieses Wunders, das ihr so dringend benötigt, zu sein. … Um helfen zu können, muss ich aus allen drei Flüssen gleichzeitig meine Macht beziehen. Ich weiß, dass ich nach diesem Regelbruch in die Sümpfe von Ras verbannt werde. … Aber das macht mir nichts aus. … Weder ich, noch meine beiden Brüder, können die Flüsse verlassen. Ich habe bereits so lange in dieser Aufgabe verweilt, es wird Zeit für etwas Neues. Außerdem würde ich, falls ich euch nicht helfe und ihr mit eurer Mission scheitert, sowieso sterben. … Schon bald wird Tarator hier eintreffen, da er den Fluss der neutralen Kraft austrocknen lassen möchte."

Ich greife in den Lumpenbeutel und hole die Kommunikationskugel heraus.

"Hört ihr mich?", frage ich in die gläserne Kugel. Ein Gewirr aus vielen Stimmen antwortet mir.

"Vater, wo bist du?"

"Ich bin beim Fluss Téodid in Tan. Èppus ist gerade eingetroffen, um uns hier zu unterstützen!"

Erneut spreche ich in die Kugel: "Ispép, wo bist du?"

"Ich bin am Fuße des Hügels nach Zarg, beim schwarzen Fluss Téodex! Wo bist du, Äthyl?"

"Ich bin zusammen mit Yks, Retsam und Ydna bei Ilokórb. Sind neben den Flüssen Löcher in den Boden gegraben worden?"

"Ja, Äthyl!", antwortet Ispép. Vater ergänzt: "Ja, genau so, wie du es in deinen Visionen bereits vorausgesehen hast!"

Besorgt frage ich in die Kugel, ob es eine Möglichkeit gäbe, die Flüssigkeiten der beiden Flüssen zum Fluss Téodom zu transferieren.

Die monotone, altbekannte Stimme von Aurelius ist zu hören: "Der Transfer von magischen Gütern und Personen über weite Entfernungen kann mit Hilfe der Katokawolke durchgeführt werden. Das Gesetzt erlaubt die Benutzung zum Einberufen des Rates und anderen Teilnehmern. In Ausnahmesituationen können auch andere Güter oder Personen damit transportiert werden. Der Einsatz kann nur von Gaia gestattet werden…", seine Stimme normalisiert sich wieder.

"Gaia, kannst du bitte das Wolkenportal entsenden? … Danke für deine schnelle Reaktion!" 

Soeben bemerke ich, dass Ydna, Yks und Retsam in tierischer Gestalt, bereits daran arbeiten, zwei große Löcher neben den Fluss Téodom zu graben.

Plötzlich erscheint das weiße Wolkenportal.

"Können wir liefern?", höre ich meinen Vater.

"Ja!", schreit Yks aus Leibeskräften, die gerade, zusammen mit Ydna das erste Loch fertiggegraben hat.

Der Raum erhellt sich, während die Flüssigkeit aus der Katokawolke läuft. Parallel dazu graben Retsam und ich an dem zweiten Loch.

Die Wolke ist verschwunden.

"Was war das?!", schreit Ydna, der sich vor dem lauten Geräusch, ebenso wie alle anderen in der Höhle, erschreckt hat, als der steinerne Sockel, samt der Statuen des Rates auf den Boden gekracht, zerbärste.

"Ich werde euch jetzt alle töten!", schallt die hohe, fiese Stimme, dessen Besitzer ich nun das erste Mal außerhalb meiner Visionen sehe.

"Ob ihr könnt, oder nicht! Wir liefern jetzt!", höre ich Ispép. Das weiße Wolkenportal schiebt sich zwischen Tarator und
uns. Die schwarze Flüssigkeit läuft aus dem Portal in das Loch. Retsam und ich können uns gerade noch, in letzter Sekunde, vor der schwarzen Flüssigkeit, in Sicherheit bringen.

"Jetzt Ilokórb! JETZT!", schreie ich, so laut ich kann.

"Stirb!", ruft Tarator aus Lebeskräften.

Ein roter Lichtblitz rast auf Ilokórb zu, der mit seinem linken Fuß in der schwarzen Flüssigkeit steht, und mit dem Rechten in der weißen.

Ilokórb breitet erwartungsvoll seine Arme aus, als würde er sich freuen, weil gerade ein Freund aus der Ferne auf ihn zukommt. Er öffnet den Mund und schluckt den Lichtblitz. Nichts geschieht.

"Es wird Zeit…", spricht Ilokórb zu Tarator gewandt, "… dass du deine ganz persönliche Prophezeiung erhältst. Du kennst die Regeln. Falls du sie erzählst, bevor sie erfüllt ist, werden alle Beteiligten sterben und du wirst in die Sümpfe von Ras verbannt.

Tarator sieht, starr vor Schreck, in Ilokórbs Gesicht, als plötzlich vor ihm eine Pergament-Rolle erscheint.

Seine Augen bewegen sich von links nach rechts. Plötzlich flammt das Pergament auf.

Entgeistert fällt Tarators Blick auf Ilokórb, welcher mit seinem Stab einen Verbindungsgraben zwischen den beiden, magischen Flüssigkeiten zieht und sagt: "Nicht einmal Aurelius wird dir aus dieser Prophezeiung helfen können. Er kennt sie nicht. Wir sind die einzigen, die wissen, was auf dem Pergament stand. … Ich weiß, dass du den Inhalt niemandem verraten wirst, deshalb werde ich es tun…"

Tarator zeigt wie wild mit seinem Finger auf Ilokórb und schießt mit jedem "stirb", das er brüllt, Lichtblitze auf ihn, jedoch ohne Wirkung. Er scheint, geschützt durch die Flüsse, immun dagegen zu sein.

"…Die Prophezeiung von Tarator beschreibt, dass er völlig alleine existieren wird. Es gibt niemandem, der an seiner Prophezeiung begeiligt ist, außer ihm selbst. … Sobald die beiden magischen Flüssigkeiten ineinanderlaufen, wird er aufhören zu existieren, da er sämtliche Kraft verlieren wird. Seine Prophezeiung wird sich am letzten Tag seiner Existenz erfüllen, und zwar genau dann, wenn die Flüssigkeiten ineinandergelaufen sind und sich so gegenseitig aufheben."

Alle Blicke fallen auf Tarator. Die beiden Gesichtshälften klaffen auseinander, während das Wesen selbst wie am Spieß schreit. Durch das Gewicht des Oberkörpers, reißt sein dunkler Umhang in zwei Hälften. Er fällt in der Mitte auseinander. Reglos liegen Tarasin und Bator am Boden.

"Der Fluss ist ausgetrocknet!", höre ich Vater. "Unserer auch!", ergänzt Ispép.

"Ich weiß nicht, ob wir uns jemals wieder sehen werden, aber ich danke dir, dass du dazu beigetragen hast, dass ich gelernt habe, zum Wohle anderer meine eigenen Entscheidungen treffen zu können…", sagt Ilokórb, während ihn, zusammen mit Tarasin und Bator ein grüner Schimmer verhüllt. "…Ich freue mich schon auf neue Herausforderungen in Ras. Vielleicht schreibe ich euch eine Postkarte!"

Nach einiger Zeit der Stille, höre ich plötzlich aus der Kommunikationskugel: "Alles in Ordnung bei euch? Hallo? Jemand da?"

"Ja! Bei uns ist alles in Ordung", sagt Yks.

"Humorvoll, bis zum Ende! Meine Prophezeiung hat sich gerade durch diesen dämlichen Schlusssatz erfüllt…", sagt Retsam, der das Schweigen bricht und offensichtlich immer noch nicht fassen kann, was er von Ilokórb zum Abschied gehört hat. "…Ich bin echt froh, dass das endlich vorbei ist!"

"Ich bin auch sehr froh! Meine hat sich auch genau deshalb erfüllt! Ich hätte nie gedacht, dass das bezüglich der Postkarte, jemals einer der Ältesten sagen würde, schon gar nicht, während die Flüsse der Macht ausgetrocknet sind.", sage ich, als ich die vielen Jubelstimmen durch die Kommunikationskugel in meinem Kopf wahrnehme.

Als ich mich in Richtung Yks drehe, stelle ich fest, dass sie ihren Kopf zu Boden gesenkt hat, und weint.

"Mein Herz. Ilokórb… Ja, er ist ein sehr großer Verlust für uns.", sage ich behutsam.

Yks antwortet zögerlich: "Ich bin überwältigt… Aber das ist es nicht. Ich konnte bislang meine Prophezeiung noch nicht erfüllen. Ehrlich gesagt, hätte ich nie geglaubt, dass der Beginn jemals eingeleitet werden würde. Heute war sozusagen mein letzter Tag, an dem ich frei entscheiden konnte.", schluchzt sie.

"Hat das, was du meinst, auch mit dem letzten Satz von Ilokórb zu tun?", frage ich sie.

"Ich darf doch nicht über den Inhalt der Prophezeiung sprechen. Du weißt doch: Tod, Unheil und die Sümpfe von Ras – das alte, leidige Thema!…"

Nach einer Weile hat sie sich etwas beruhigt und setzt fort: "…Lass uns von etwas Anderem sprechen. Ob wir mit unserer Liebe genug Kraft aufbringen können, um die magischen Flüsse wieder aufzufüllen, und zwar bevor unsere Welt endgültig in den Abgrund stürzt?"

Ich nehme meine Frau in den Arm und küsse sie, aus tiefstem Herzen. Yks schaut mir tief in die Augen und lächelt: "Wenn wir es alleine nicht schaffen…", sie deutet mit ihrem Kopf auf Retsam und Ydna, die sich gerade wie wild in den Armen liegen und leidenschaftlich mit einander knutschen, "…bin ich mir sicher, dass uns die beiden tatkräftig dabei unterstützen werden!"

ENDE

Was nun Yks' Prophezeiung anbelangt, erfahren wir an einem anderen Tag vielleicht mehr dazu.

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