Jetzt, wo mich gerade die ersten Sonnenstrahlen des Tages geweckt haben, fühle ich mich, obwohl ich sehr schlecht geschlafen habe, sehr entspannt und ausgeruht. Zum ersten Mal denke ich an absolut nichts!

"Äthyl…", höre ich vor meinem Zimmer von Retsam rufen, "…bist du schon wach?"

"Ja, mein Bruder, ich bin soeben aufgewacht."

Nach dem Frühstück (kalter Quato-Braten vom Vortag – wir konnten einfach nicht widerstehen!) erinnert mich der Wirt Néilàti an mein Versprechen. Ich bestätige ihm, dass ich Ydna umgehend an seine Schulden erinnern werde, damit er uns gehen lässt.

Retsam gibt dem Wirt noch schnell etwas Geld, um seine Aufwände zu entgelten.

Nachdem nun Néilàti hinter uns die Tür geschlossen hat, verwandeln wir uns zurück in unsere tierische Gestalt. Retsam gibt mir zu verstehen, dass wir die Höhle nach Zarg unmöglich in menschlicher Gestalt bewältigen können.
Ein finsterer Ort. Die Höle ist mehrere Kilometer lang. Sie ist ein langer, unebener, niedriger Schlurf, ohne Ausweg nach links oder rechts. Eine Abkürzung sollte sie sein und wir würden uns eine tagelange Reise, rund um die Bergkette herum, ersparen. Der Weg ist gesäumt mit gefährlichen Felsvorsprüngen. In dieser Einöde fällt mir plötzlich der Traum von gestern Nacht ein, welcher der Grund dafür war, wieso ich in der Früh an gar nichts denken konnte, und in der Nacht so schlecht geschlafen hatte:

"Retsam… Ich habe gestern etwas merkwürdiges geträumt!", beginne ich zu erzählen. Die Luft ist stickig und das Atmen fällt schwer.

"Erzähl!", keucht Retsam.

"Ich träumte davon, dass eine mir unbekannte Person am Rande des schwarzen Flusses Teodéx stand und Inorf, dessen Hüter, in die Fluten stürzte. Daraufhin wuchs die Person auf das Zwanzigfache seiner ursprünglichen Größe an und riss im Anschluss ein großes Loch in den Erdboden neben dem Flusslauf. Ich hörte alle Bäume so tief singen, dass die Erde bebte! Das riesige Wesen benutzte den Zeigefinger seiner rechten Hand und zog zwischen dem gegrabenen Loch und dem Flusslauf eine Furche, um einen Teil des Flusses umzuleiten. Nachdem das Loch mit schwarzer Magie gefüllt war, benutzte er einen Teil der beiseite geschaufelten Erde dazu, um den Zulauf wieder zu schließen. Er lachte darauf und schrie mit hoher, schriller Stimme, dass es nun für alle Wesen von Téo zu spät sei, und ihn nun niemand mehr aufhalten könne!"

"Was kann das bedeuten und wer könnte die Person sein, die du gesehen hast?", fragt Retsam noch mehr außer Atem. Der Weg ist zwischenzeitlich sehr steil geworden und die spitzen Felsen am Boden machen ihn noch beschwerlicher.

"Ich weiß es nicht. Die Person, die ich in der Vision sah, sah so schrecklich aus. Das Gesicht…", versuche ich mich zu erinnern, "…es sah aus, als ob es der Länge nach aus zwei Gesichtern zusammengesetzt worden wäre. Könnte dies Tarator gewesen sein?"

"Ich bin mir nicht sicher…", hustet Retsam, "…in jedem Fall scheint es so, als ob du deine persönliche, magische Kraft wiederentdeckt hättest. Früher hattest du Visionen, die für dich bestimmt waren, um Situationen zu verhindern, die Unheil über unser Land gebracht hätten…"

Plötzlich fällt mir Inorf ein. Er hat von meinen Visionen gesprochen.

"…Niemand, der Tarator je zu Gesicht bekommen hat, hat es bisher überlebt. Es gibt Gerüchte, aber lass uns das bitte später besprechen. Ich bin fast schon am Ende meiner Kräfte. Sieh her, da ist der Ausgang der Höhle! Dort beginnt die Stadt Zarg und wir müssen uns noch seelisch auf die Konfrontation mit Ydna vorbereiten! Er darf von deiner Amnesie nichts merken", antwortet Retsam nun völlig außer Atem.

Fast am Ende unserer Kräfte angelangt, kommen wir in der Stadt Zarg an. Als sich meine Augen endlich an die Helligkeit gewöhnt haben, sehe ich zum ersten Mal die Stadt und alles was mir durch den Kopf geht, tritt plötzlich in den Hintergrund.

Die Stadt ist überwältigend. Erstaunlich strukturiert errichtet. Sie wirkt beinahe, als ob ein Architekt über Jahrhunderte im Voraus geplant und sie im Anschluss daran hätte errichten lassen. Meter für Meter ist sie mit ländlichen Häusern verbaut. Jede Hütte hat genau elf Stockwerke. Mich lässt das Gefühl nicht los, dass die Zahl elf einen Besonderen Platz in der Ordnung des Landes Téo hat.

"Wohnt hier Ydna?", frage ich meinen Bruder. Retsam wirkt abwesend und nervös. "Wohnt hier Ydna?", frage ich etwas lauter.

Er schüttelt nachdenklich den zu Boden geneigten Kopf und beginnt mit niedergeschlagener Stimme zu sprechen: "Ich bin nur müde, Äthyl. Die Reise durch die Höhle war sehr anstrengend. Ja, hier wohnt Ydna. Wir sollten hineingehen."

Ich spüre, dass Retsam nicht in diese Hütte hineingehen möchte. Hat er Angst? Er wirkt auf sonderbare Art und Weise verunsichert. "Sollte ich besser alleine gehen?", frage ich ihn.

"Nein, auf keinen Fall! Aufgrund deiner Amnesie kann ich dich nicht alleine gehen lassen. Falls Ydna bemerkt, dass du alles vergessen hast, nutzt er dies aus. Ich kann dich ihm gegenüber nicht ausliefern. Außerdem wurdest du auch von Inorf gewarnt. Du bezeichnest Ydna zwar als Freund, aber er kann sehr schnell zur bösen Schlange werden!", flüstert Retsam in müdem Ton, als wir schon direkt vor dem Eingang von Ydnas Hütte stehen.

Retsam ist mein Bruder und irgendwas in mir, sagt mir, dass ich ihm vertrauen muss. "Gut, mein Bruder! Ich möchte, dass du mich zu Ydna begleitest. Ich weiß, dass du nie zulassen würdest, dass mir etwas passiert. Ich spüre zu dir eine tiefe Freundschaft. Ich danke dir, dass du mich unterstützt!"

Trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass Retsam mir etwas verschweigt. Ich glaube auch, dass dieses Schweigen mit einem sehr persönlichen Thema zu tun haben muss. Schließlich verhält sich Retsam, als würde ich meine Ehe verheimlichen wollen.

Retsam atmet einige Male tief durch und klopft, nachdem er sich in seine Menschengestalt verwandelt hat, viermal an der Eingangstür des elfstöckigen Hauses. Nichts passiert.

Nun klopft er zweimal.

Intuitiv hebe ich die Hand und klopfe, nachdem auch ich meine Menschengestalt angenommen habe, genau fünfmal gegen die Tür.

"Woher weißt du, dass wir insgesamt elfmal an die Tür klopfen müssen? In genau dieser Reihenfolge? War das eine Erinnerung, die Tarator nicht in das Solosax sperren konnte?", fragt mich Retsam verwundert.

"Keine Ahnung! Ich fühlte es. Der Drang zwang mich dazu, das Klopfen zu vervollständigen."

Die Tür der Hütte öffnet sich.

"Hallo Èleg!", höre ich aus Retsams Mund, der eine junge, blonde Frau, völlig gelangweilt, ohne ihr dabei in die Augen zu sehen, begrüßt. Die etwas untersetzte Frau, in schrillem Outfit, steht direkt vor uns und hält etwas Seltsames in der Hand.

"Kommt rein! Ihr schafft es jedesmal wieder genau in dem Moment aufzutauchen, wenn ich am wenigsten Zeit für euch habe. Aber zum Glück hattet ihr nicht vor mich zu besuchen!", raunzt Èleg halb genervt, halb sarkastisch, "So habe ich zumindest die Zeit das zu tun, was ich am besten kann. Putzen! Falls noch Zeit bleibt, mache ich mir noch Sorgen um Ydna! Irgendwann wird ihn der Rat der Ältesten von Téo verbannen, wenn er so weitermacht!"

Merkwürdige Person, denke ich bei mir. Vielleicht sollte ich einfach mitspielen und so tun, als ob ich genau wüsste, von was sie spricht. Ein kurzer Blick zu Retsam bestätigt mein Vorhaben. Ein Gefühl verrät mir, dass es an der Zeit ist, sie aufzuziehen: "Die einzige Sorge, die du dir zu machen brauchst ist, dass Ydna vom Rat der Ältesten nicht mehr gefunden wird, so wie die Bude hier aussieht!".

Innerlich lache ich, das hat gesessen!

"Er ist im Raum von Fumé…", schnaubt sie, während sie mit dem komischen Teil, welches aussieht, als wäre es ein Kochlöffel mit abschließendem Wattebausch versucht, einen Fleck von einer Lampe im Eingangsbereich zu schrubben, "Geht schnell, bevor der Dreck zu hoch wird!", schließt sie sarkastisch ab, während sie beinahe über einen Stuhl stolpert.

Retsam geht voran und murmelt: "Gut gemacht, mein Bester! Genau das hat sie erwartet!"

"Was hast du gesagt, Retsam?", kommt es scharf von Èleg aus Richtung des Eingangsbereiches geschallt. Drauf Retsam, mit nicht minder sarkastischem Ton: "Ich sagte, wenn sie in dem Schneckentempo weiterputzt, trocknet das Ding in ihrer Hand aus, bevor sie die schmutzige Stelle erreicht hat!"

Wir stapfen über den – zugegebenermaßen astrein geputzten – Boden weiter, bis ans Ende des Flurs.

Retsam berührt mit dem Zeigefinger seiner linken Hand eine klinkenlose Tür. Er schließt die Augen und tastet diese, ohne dabei den Finger von ihr zu lösen, streichend wie ein Dirigent im Vier-Viertel-Takt, ähnlich wie die Umrisse eines auf dem Kopf stehenden Ypsilons, ab. Als sein Finger die Ausgangsposition der Bewegung erreicht, springt sie aus dem Schloss. Mit leichtem Druck, schiebt er sie mit den Worten "Ydnas Zeichen" zurück.

Wir betreten den Raum, welcher in weißem Dunst getränkt, die Sicht zur Raummitte versperrt.

"Hey Alte! Mach die Tür zu, oder willst du, dass der Rat mich hier findet?!", schallt es verraucht, mehrmals durch Husten unterbrochen, aus der Raummitte.

"Ydna! Wir sind es!", versucht Retsam zu erklären, während er sich selbst ein Husten unterdrückt.

In der Mitte des Raumes sitzt ein kleiner, in giftgrünem Gewand gekleideter, Mann. Er hat ein spitzes Gesicht mit einer langen, dünnen Nase und blondes, schütteres Haar am Kopf, welches, feinsäuberlich um seine Halbglatze angereiht, wie halb eingeschlagene Nägel in einem Nagelbrett, der Reihe nach absteht.

"Ah, meine Freunde!…", beginnt Ydna in schlangenhaft, schleimerischem Tonfall, "…Äthyl und Retsam. Ich hätte es wissen müssen. So oft hättet ihr bereits dem Rat der Ältesten verraten können, wo man mich finden kann. Ihr braucht immer wieder meine Hilfe und akzeptiert, dass ich vom Rat – ich machte nie ein Geheimnis daraus, es ist zu Recht – verfolgt werde. Seid ihr wahre Freunde, oder liegt es vielleicht doch daran, dass ich in euren Prophezeiungen eine wirklich wichtige Rolle spiele? … Was führt euch zu mir?"

"Ja! Genau deshalb sind wir hier, und du fragst uns jedes mal wieder danach, wenn wir uns sehen!", antwortet Retsam ohne dabei Ydna anzusehen.

"Und jedes mal wieder, können wir dir keine Antwort darauf geben!", fühle ich ergänzen zu müssen, während mir auffällt, dass Retsam immer noch auf den Boden sieht, so, als ob er sich wegen etwas schämen würde.

"Wie wahr, wie wahr! …", sagt Ydna in gekünstelter Freundlichkeit, "…Das werden wir wohl nie erfahren, außer es kommt zur Erfüllung der Prophezeiung. Das letzte Mal kamst du alleine, Äthyl. Das kann nur bedeuten, dass deine schlimmsten Befürchtungen eingetroffen sind…"

Oh nein! Was habe ich ihm erzählt? Weiß er schon, dass ich mich an nichts von Früher erinnern kann?

"…Also warum seid ihr hier? Wieso schaut ihr mich so ratlos an? Habt ihr etwas vergessen? Etwas sehr wichtiges? Seit ihr deshalb gekommen?!"

"Nein!…", beginne ich zu lügen, "…Wir haben nichts vergessen. Nicht so wie du, der bei Néilàti, dem Wirt der getarnten Gaststätte noch einige Rechnungen offen hat. Wir sind hier, weil es einen Auftrag für uns gibt!", was durchaus zur Wahrheit gehört.

Ich hätte nicht damit gerechnet, so schnell mein Versprechen dem Wirt gegenüber einlösen zu können. So setze ich mit der Wahrheit, da ich denke, dass es nun angebracht ist die Wahrheit sprechen zu lassen, fort: "Wir holen den Schlüssel von Hexyl!"

"Ich wusste doch, dass ihr hier seid, weil ihr meine Hilfe braucht! Wie so oft, aber redet doch nicht so geschwollen! Schlüssel von Häxüül…Ha!", äfft Ydna, "…Sagt doch gleich, dass ihr das Passwort für das Portal von Tan haben wollt. Ich kann es euch aber nicht geb…" "Natürlich kannst du das!…", unterbreche ich ihn einfach, "…Deshalb sind wir ja hier!"

Ydna schweigt. Es ist ihm anzusehen, dass er über etwas grübelt.

"Ich werde das Gefühl nicht los…", feixt Ydna, "…dass hier irgendetwas nicht stimmt. Zuerst kommst du zu mir, alleine ohne Retsam, und gibst mir – egal ob du mir nun wirklich vertraust oder nicht – das Passwort … och … dein Hexüüülschlüsseldings zum Betreten der Stadt Tan…"

Ydna denkt nach, als ob er versucht die nun folgenden Worte ganz genau abzuwägen. Eine Ader auf seiner Stirn tritt pochend hervor.

Eine unerträgliche Stille macht sich breit, doch jetzt setzt er fort: "…Nun tauchst du wieder zusammen mit Retsam auf und erwartest von mir, dass ich dir dein Schlüsseldings einfach wieder so mir-nix-dir-nix gebe. Das ergibt keinen Sinn!"

"Doch Ydna, es ergibt einen Sinn!…", antworte ich, währenddessen ich versuche, mir für Ydna eine gute Ausrede einfallen zu lassen. Egal welche es ist, er muss sie einfach glauben!

"Da bin ich aber gespannt, mein Freund!", antwortet Ydna erwartungsvoll und zynisch zugleich.

"Wir dürfen über die Prophezeiung nicht sprechen. Erklärungen, welche mit meiner Prophezeiung zu tun haben, stürzen mich, sowie alle weiteren beteiligten in tiefes Unheil! … Du weißt doch!", sage ich während ich meine Augen überdrehe und innerlich total stolz auf mich bin, weil mir eine so gute Ausrede eingefallen ist. Auch wenn es zufällig stimmen würde, weder Ydna noch irgendjemand sonst könnte das Gegenteil beweisen!

Verärgert reißt Ydna seinen Kopf in Richtung der Türe des Raumes von Fumé und brüllt lauthals: "Èleg, komm her! Ich muss dich was fragen! … Èèèèleeeeg!!"

Hat er die Ausrede geschluckt? Er neigt den Kopf zurück in meine Richtung und fährt wie zuerst ebenso ruhig, wie zynisch fort: "Mein Freund… Das mit den Prophezeiungen ist so eine Sache. Zugegebenermaßen betrifft mich das auch. Das Dilemma kenne ich. Dennoch! Du bist irgendwie verändert. Èleg wird mir meine Fragen beantworten!"

Innerlich beginne ich mir leicht Sorgen zu machen. Hat er doch etwas bemerkt? Weiß er mehr, als er zugeben möchte?

"Du hast gerufen, mein Bruderherz?", fragt Èleg unterwürfig, gerade so, als hätte sie sich am liebsten noch elfmal dabei verbeugt.

"Sag mir, wie hat sich Retsam dir gegenüber verhalten, als sie hereinkamen?", fragt Ydna im selben schleimerisch, zynischen Ton, wie gerade zuvor.

"Wie soll ich sagen, so wie immer schätze ich!", und nickt dabei unterwürfig.

"Meinst du damit, dass er dich nach bestem Wissen und Gewissen verarscht hat?", brüllt Ydna sie scharf an. Seine Ader auf der Stirn pulsiert gefährlich, als ob sie jeden Moment platzen könnte.

Beschämt beantwortet Èleg die Frage mit einem traurigen, sehr lang gezogenen und gehauchtem "Ja!".

Sie tut mir wirklich leid. Hat es mir sonst auch leid getan, als ich noch wusste, dass es normal ist Èleg zu veralbern?

Ydna bohrt weiter: "Und Äthyl? Wie hat sich Äthyl verhalten?"

Èleg hebt den Kopf langsam zu Ydna hoch und antwortet unter Tränen: "Er hat damit angefangen!"

Mit Ausnahme von Èlegs leisem Wimmern ist kaum etwas zu hören. Es ist beinahe so, als ob man den rauchartigen Nebel im Raum von Fumé an den Wänden kratzen hören kann.

Èleg durchbricht das Schweigen: "Kann ich jetzt gehen? Ich muss noch den Dreck wegmachen, damit die alten Téoräder wenigstens im Haus die Chance haben, dich zu finden, sofern diese hier mal die Tür öffnen können!"

"?!? … Was immer du meinst, mein Schwesterherz!…", Ydna dreht seinen Kopf in meine Richtung und setzt fort: "Vielleicht sollte sie nicht zu lange im Raum von Fumé verbringen. Sie spricht hier drin fast nur wirres Zeugs. Abgesehen davon, hat sie recht. Es scheint alles in Ordnung zu sein. So wie immer. Ich wollte nicht an euch zweifeln, meine Freunde, aber in diesen Tagen kann man nicht vorsichtig genug sein. Das Passwort ist: Gošopi, aus der Sprache der Aloc-Mönche in Bótan. Du hast mir zwar nicht verraten wollen, was es bedeutet, aber so hast du es mir beim letzten Mal mitgeteilt."

"Ich hoffe, du hast ansonsten niemandem davon erzählt!…", spricht Retsam scharf, "…Es wäre fatal, wenn die Information in falsche Hände gelangt!"

"Das würde ich nie tun…", antwortet Ydna erpicht. Ich kann ihm die Aussage nicht glauben. Er hat mir dabei bewusst nicht in die Augen gesehen.

"…Jetzt geht, ihr habt einen Auftrag, der für euch sehr wichtig erscheint!"

"Das passt zu Ydna…", sagt Retsam, nachdem Èleg die Eingangstür zur Hütte, hinter uns verschlossen hatte und Retsam sich sicher war, dass Èleg davon nichts mehr mitbekommt, "…Zuerst zweifeln, dann auf guten Freund machen und zum Schluss das Gespräch mit einer klaren Lüge beenden!"

"Ich hatte auch das Gefühl, dass Ydna log, als er sagte, dass er niemandem sonst das Passwort gegeben habe. Ich habe große Bedenken, dass der Weg zu den Aloc-Mönchen einfach werden wird. Natürlich rechne ich mit dem Schlimmsten! Warum habe ich nur Ydna das Passwort anvertraut, und nicht dir, Retsam?"

"Wahrscheinlich ist es genau so, wie du zu Ydna gesagt hast. Vielleicht hat es tatsächlich mit deiner Prophezeiung zu tun. Wahrscheinlich konntest du mir nichts davon verraten, um das Machtgleichgewicht nicht zu zerstören."

"Denkst du, dass Ydna mit Tarator unter einer Decke steckt?", frage ich meinen Bruder.

"Schwer zu sagen…"

Schon wieder erfasst mich das Gefühl, dass mir hier Retsam nicht die ganze Wahrheit erzählen möchte. Wieso deckt er Ydna? Plötzlich wechselt er das Thema: "…Du hast mich in der Höhle etwas bezüglich Tarator gefragt. Ich hatte nun auch etwas Zeit über deine Vision nachzudenken und bevor wir darüber sprechen, muss ich dir noch von den Gerüchten erzählen…"

Ich bin mir sicher, dass mein Bruder etwas sehr persönliches zu verheimlichen hat. Wieso sollte er sonst so ausweichend reagieren? Ich bin sicher, dass er seine Gründe hat, deshalb werde ich jetzt nicht mehr nachfragen und lasse ihn einfach erzählen.

"…Wie oft – ich weiß, dass du dich momentan nicht daran erinnern kannst – haben Wesen versucht, sich den Prophezeiungen zu widersetzen. Manche davon haben auch versucht, die ganze Macht an sich zu reißen. Mal mehr, mal weniger erfolgreich. Die Gerüchte besagen, dass zwei Brüder – Tarasin und Bator – beides wollten, um ihre Pläne zu verwirklichen. Sie wollten sich über die Macht des Rates der Ältesten von Téo hinwegsetzen. Ein uralter Zauber soll es ermöglicht haben, dass die beiden Brüder sich zu Tarator vereinen konnten. Erinnere dich an deine Vision, du hattest mir von der Person mit dem Gesicht aus zwei Hälften erzählt."

Plötzlich sehe ich die Vision vor mir, als würde ich sie nochmals durchleben. Ich setze an, etwas zu sagen.

"Nein, lass mich ausreden! Die Brüder haben sich zu Tarator vereint und in deiner Vision ist dir etwas gelungen, was andere nicht überlebt haben. Du hast ihn gesehen…"

Verdutzt höre ich weiterhin zu.

"…Die Gerüchte erzählen auch, dass sich die Brüder deshalb miteinander vereinigt haben, um sich den jeweils gültigen Prophezeiungen zu widersetzen. Tarator, als künstliches Wesen, hat selbst nie eine Prophezeiung erhalten, wohl aber die einzelnen Personen…"

Schön langsam beginne ich die Geschichte zu verstehen. Tarator kann nur deshalb so viel Macht besitzen, weil dieser einen Weg gefunden hat, um die für Tarasin und Bator gültigen Prophezeiungen zu umgehen. Für ihn als Tarator gab es keine Prophezeiung, an die er sich halten musste, da niemals eine für Tarator vorgesehen war. Somit hat er die Möglichkeit, sich außerhalb der Regeln des Rates durch das Land zu bewegen.

"…Bekannt geworden sind diese Gerüchte, als das große Geheimnis der Stadt Zarg. In der Stadt sollen sich die Ereignisse abgespielt haben! Auch du wusstest von den Gerüchten…"

 "…Lass mich raten…", unterbreche ich meinen Bruder, "… bevor ich meine Erinnerungen verloren habe!…"

Retsam lächelt.

Ob Aurelius davon gewusst hat, als er damals Tarasin und Bator die Schriftrollen überreicht hatte, oder jetzt als er mein Solosax das erste Mal berührte?

"…Wie lange wird es dauern bis meine Vision sich bewahrheiten wird und vor allem, wie hat sich der Rat der Ältesten von Téo verhalten, als sie erfuhren, dass die Brüder einen Weg gefunden hatten, sich der jeweiligen Prophezeiung zu widersetzen?", frage ich Retsam gespannt.

"Mach dir keine Gedanken über die Vision. Die Sonne wird noch einige Male aufs Neue unser Land erhellen. In der Vergangenheit war es so, dass es erst ernst wurde, als du selbst in der Vision vorgekommen bist. Wir haben also noch etwas Zeit, diese Information konnte ich deinen Erzählungen noch nicht entnehmen. Erinnere dich auch, was Inorf zum Thema Visionen gesagt hat. Viel wichtiger ist es, deine zweite Frage zu beantworten. Der Rat war außer sich und hat umgehend ein Tribunal einberufen. Dieses sollte, die Machenschaften von Tarasin und Bator durchkreuzen. Dazu eingesetzt wurde ein Protast, vertreten durch die Onyiccson, ein Negost, vertreten durch einen Aloc-Mönch, sowie einem Neutristen Namens Aikòn, welcher die Wage zwischen der guten und bösen Macht repräsentieren sollte. Der Bund des Tribunals wurde im magischen Kampf – innerhalb kürzester Zeit – aufgelöst. Angeblich hat dabei der Rat auch einen Ältesten verloren. Seit dem gibt es, laut den Gerüchten, nur mehr 10 Mitglieder im Rat der Ältesten von Téo."

"Schrecklich, wie vorsätzlich, eigennützig, unmenschlich und gut organisiert das Brüderpaar als Tarator vorgeht!", staune ich, fast bewundernd, ähnlich wie es bereits Aurelius, im alten Archiv tat.

"Niemand hat mit der hinterhältigen Intelligenz des Bündnisses der Brüder gerechnet. Nun ist ein weiteres Gerücht entstanden, nachdem es ein besonderes Wesen geben soll, welches als einziges die Weisheit besitzt, um das Bündnis der Brüder zu durchbrechen. Eines sollte klar sein: Durch die Vereinigung der Brüder zu Tarator, müssten diese gegenseitig von den Prophezeiungen erfahren haben. Sobald diese voneinander getrennt sind, müsste, sofern es nach den Regeln des Rates geht, es von selbst geschehen, dass die Brüder nach Ras verbannt werden."

Sind das wirklich nur Gerüchte?

Ich kann mich zwar an so vieles nicht mehr erinnern, aber kann es sein, dass das alles mit meiner Prophezeiung zu tun hat? "Wenn ich das richtig verstanden habe…", meine ich zu Retsam, "…müssen alle Mitglieder des Rates Neutristen sein. Inorf habe ich schon kennen gelernt…", Retsam nickt und ergänzt, dass sie alle sehr weise seien und jedes Mitglied für sich besondere Fähigkeiten habe. Es scheint so, als erwarte er weitere Fragen, deshalb setze ich fort: "…Angenommen wir würden den Gerüchten Glauben schenken, warum hat mir Aurelius im alten Archiv von Téo gesagt, dass er uns beide am liebsten töten würde?"

"Ich kann lediglich auch nur vermuten. Aurelius sagte dies wahrscheinlich deshalb, weil er das Machtgleichgewicht aus den Fugen geglaubt hatte. Nachdem er bemerkt hatte, dass du dein Gedächtnis verloren hattest, erkannte er wahrscheinlich, wie wichtig du geworden bist."

"Was meinst du damit?"

"Nun, wahrscheinlich baut deine Prophezeiung auf Tarasin und Bators Vereinigung zu Tarator auf. Wenn er ein Wesen ist, das nie eine eigene Prophezeiung erhalten hat, könnte doch das Machtgleichgewicht aufgrund deiner Amnesie wieder hergestellt worden sein."

"Ich verstehe nicht, was du meinst"

"Überleg mal. Du hast keine Erinnerungen an früher. Für dich scheint es so, als ob du auch nie eine Prophezeiung erhalten hättest. Ob du willst, oder nicht, du kannst über deine Prophezeiung kein Wort verlieren, da du sie nicht kennst. Auf groteske Art und Weise wurde so das Machtverhältnis zwischen Gut und Böse wieder ausgeglichen."

"Jetzt verstehe ich, was du meinst. Nur eine Sache hat Tarator in seinem diabolischen Plan vergessen zu berücksichtigen: Den Entzug meiner Gefühle. Manche der Entscheidungen, die ich bisher getroffen habe, waren anfangs durch Angst und Unsicherheit geprägt, aber als ich mich auf mein Herz verlassen habe, habe ich mich bisher trotzdem immer richtig entschieden."

"Ja, Äthyl! Dies wird auch der Grund dafür sein, wieso sich der Rat nicht weiter in das Geschehen einmischt und nicht mit Gewalt die Mächte verteilt… Komm Bruder, wir müssen los! Lass uns keine Zeit verlieren, die schwarzmagischen Aloc-Mönche warten bereits auf uns. Die Eindrücke sind vielfältig und manches davon muss, nach wie vor, sehr verwirrend für dich sein. Aber vergiss nicht, wir müssen schnell dafür sorgen, dass du den Schlüssel von Hexyl und somit auch deine Erinnerungen zurück erhältst!"

Da hat er Recht, denke ich bei mir. Ich bin sicher, dass wir nicht das letzte Mal von Ydna gehört haben. Einige Steine werden am Weg nach Tan zu erwarten sein. Trotzdem denke ich, dass jede andere Person als Hüter des Passwortes noch viel gefährlicher gewesen wäre.

Verwirrt? Ja das bin ich! Besonders auch deshalb, weil ich vom Hüter der schwarzen Magie Informationen zum Schlüssel von Hexyl erhalten, oder den Schlüssel selbst, erhalten soll. Lustig finde ich, dass Ydna dachte, dass der Schlüssel von Hexyl das Passwort sei. Wer weiß, für was das gut war.

"Ja, lass uns gehen!", sage ich zu Retsam selbstsicher und gestärkt, durch das Gespräch von eben. Mich interessiert zwar immer noch brennend, wieso Retsam es nicht wagte, Ydna in die Augen zu sehen und warum er mir immer wieder auswich, aber da ich tief in meinem Herzen fühle, dass dies einen wirklich persönlichen Grund haben muss, entschließe ich mich, das Thema nun endgültig abzuhaken. Ich vertraue darauf, dass wenn die Zeit gekommen ist, mein Bruder mit mir darüber sprechen wird.

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