Es ist mitten in der Nacht! "Oh nein!", höre ich mich selbst, wie am Spieß, schreien! Schweißgebadet bin ich soeben von meinem eigenen Aufschrei aufgewacht! Mein Herz rast wie wild!

"Um Himmels Willen! Was war das?!…", höre ich aus dem Nebenzimmer, meinen Bruder Retsam, rufen. "…Äthyl, ist alles in Ordnung mit dir?"

Als ich antworten möchte, übergebe ich mich beinahe. Immer noch komplett durcheinander, antworte ich durch die dünnen Wände: "Ja! Es geht mir gut. Ich hatte gerade eine Vision." Der Schweiß läuft wie in Bächen über mein Gesicht.

Plötzlich steht Retsam, nachdem ich zwei Türen laut knallen gehört habe, völlig außer Atem vor mir und meinem Bett. Er kniet sich nieder, legt seine Hände auf meine Schultern, sieht mir tief in die Augen und sagt mit kraftloser Stimme: "Erzähl! … Was hast du gesehen?"

Ich nehme mir kurz die Zeit über das, was ich gesehen habe, nachzudenken.

Nun, da ich mich etwas beruhigt habe, beginne ich zu erzählen: "Tarator, mit dem Gesicht wie aus zwei Hälften, stürzte den am Rande des Flusses befindlichen Hüter in die Fluten. Er wuchs auf das Zwanzigfache seiner ursprünglichen Größe an und riss in den Boden neben dem Fluss ein großes Loch… Knapp daneben stand eine Person, die so ähnlich aussah wie ich, nur gut 30 Jahre älter war. Eine Person, die in meiner ersten Vision noch nicht vorkam. … War das mein älteres ich? Bin ich nun selbst in der Vision vorgekommen? Bedeutet dies, dass es nun zu Ende geht?"

"Ich kann mir das nicht vorstellen. Du siehst zwar unserem Vater zum Verwechseln ähnlich, allerdings wird Vater, von Leuten die ihn nicht kennen um die 60 Jahre geschätzt. Sein wahres Alter ist nicht bekannt…", sagt Retsam, um mich etwas zu beruhigen. "…Außerdem hattest du früher nie Visionen gehabt, welche weiter als elf Tage in die Zukunft reichten. Da sich die Zukunft jede Sekunde ändern kann und weil du in der Vision selbst nicht vorgekommen bist, nehme ich auch an, dass das noch nicht deine letzte Vision war."

Zum Glück bin ich in der Vision nicht vorgekommen. Es bleibt also noch etwas Zeit.

Etwas beruhigter, aber immer noch schockiert über das, was ich gesehen habe, erzähle ich weiter: "Tarator nahm seine riesige Hand und holte sich damit unseren Vater. Er nahm ihn an den Beinen und schleuderte ihn so oft gegen den Boden, bis er bewusstlos war. Danach warf er Vater zwischen das Loch und den Flusslauf und begann die Furche, die ich auch bei der letzten Vision schon gesehen hatte, zwischen dem Fluss und dem soeben gegrabenen Loch zu ziehen. … Vater lag dabei genau dazwischen. … Tarator schlitzte Vater mit seinen rasiermesserscharfen Fingernäglen von Kopf bis Fuß auf. Ich kann das Blut immer noch riechen, welches, überlaufen durch den Fluss der Magie, nach und nach verschwand. … Nachdem das Loch mit Magie gefüllt war, deckte er den Zulauf wieder mit der überschüssigen Erde ab, um den Zulauf zu unterbrechen. … Zum Schluss verkündete er, dass ihn nun niemand mehr aufhalten könne!"

"Das ist schrecklich! Wir müssen Vater, wenn wir bei ihm sind, sofort warnen!", meint Retsam schockiert.

"Das war noch nicht alles…", sage ich zu Retsam, "…Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. … Die Vision war so merkwürdig. … Ich kann nicht genau sagen, an welchem der Flüsse dies geschehen ist, denn die Farbwelt der Umgebung wechselte ständig zwischen Schwarz und Weiß. Beinahe so, als würde die Szene aus einer Fotografie bestehen, welche zwischen der Positiv- und der Negativ-Ansicht hin und her wechseln würde. Aus schwarz wurde weiß und umgekehrt… Lediglich Vater und Tarator haben ihre Farben beibehalten. … Der Wechsel zwischen den Farben begann ganz langsam und wurde zum Schluss hin immer schneller. Als Tarator angekündigt hatte, dass es nun zu spät sei, hüllte sich die Farbwelt um den Fluss in ein einheitliches Grau. Selbst der Fluss nahm diese Farbe an. … Dem grauen Fluss entstieg, der in die Fluten gestürzte Hüter. Auch dessen Gewand war grau. Ob Inorf oder Sirób, beide hatten sie einen grauen Stab. Derjenige, der in einem grauen Kapuzenmantel den Fluten entstieg hatte einen Stab, welcher auf der rechten Seite weiß und auf der linken Seite schwarz gefärbt war. ... Der Hüter sagte die Worte Gošópi – Saaš – Ipóšog, bevor ich aus meiner Vision, begleitet durch den Aufschrei, erwachte. … Diese Worte! Ich verstehe deren Bedeutung nicht, da ich die Sprache nicht verstehen kann. Aber ich weiß, dass ich diese Worte schon einmal irgendwo gehört, und auch in Tan bei den Aloc-Mönchen am Eingang zum Kloster gelesen, habe."

Retsam grübelt: "Also der Reihe nacht. … Es scheint so, als ob vorherbestimmt wäre, dass Tarator sich an beiden Flüssen vergreifen wird, um seine Macht zu verstärken. Zur Grau-in-Grau-Umgebung fällt mir leider nichts ein, ebenso wenig fällt mir zum Stab in schwarz und weiß ein. … Die Bedeutung der Worte ist mir auch nicht klar, allerdings kann ich dir beantworten, wo du diese schon einmal gehört hast. Es war Yks, die diese Worte zum Abschied von uns benutzt hat, bevor sie zu Vater nach Ydál gegangen ist. … Ich bin sicher, dass sie die Bedeutung der Worte kennt, immerhin kommen sie aus ihrer Muttersprache!…"

Jetzt weiß ich, wieso ich, jedes Mal, wenn ich an die Worte denke, ein warmes Gefühl rund um mein Herz spüre.

"…Dennoch scheint sich der Kosmos noch nicht darüber einig zu sein, an welchem Fluss unser Vater sterben soll!…", sagt Retsam gedankenverloren und völlig emotionslos.

Mein Gesichtsausdruck verändert sich zu einer Mischung aus Besorgnis, Angst, sowie der Verwunderung darüber, wie nüchtern Retsam über den vorausgesehenen Tod unseres Vaters spricht. Er bemerkt das und fährt behutsamer fort: "…Eine schreckliche Vision! Es wird schwierig, diese objektiv zu analysieren, da Vater darin vorkam. … Aber trotzdem, es ist eine Vision, also noch nicht passiert. Wir haben die Chance es zu verhindern. Wir müssen nur darauf achten, dass wir uns deshalb nicht selbst verrückt machen. … Gut. … Ispép – der Anführer der Aloc-Mönche – hat uns zu Vater geschickt…"

Ich unterbreche Retsam: "Am liebsten würde ich sofort nach Ydál aufbrechen! Wir müssen Vater warnen und verhindern, dass er sterben muss! Ich hoffe, dass ich Yks auch bald wieder sehen kann. Sie muss mir die Worte so schnell als möglich übersetzen. Komm, lass uns Ydna wecken!"

Retsam nickt.

Gemeinsam gehen wir, in eines der Nachbarzimmer. Neben Ydna hätte eine Bombe explodieren können, so tief und fest schläft er. Retsam hat einiges zu tun, um Ydna wachzubekommen.

"Was ist los?", fragt Ydna gähnend und etwas verärgert, weil Retsam eine Karaffe mit Wasser über ihn geleert hat.

"Keine Zeit für Erklärungen, das machen wir unterwegs! Zieh dich an, wir müssen los. Äthyl hatte eine Vision!"

Kurz nach Sonnenaufgang treffen wir in der Stadt Batátu ein.

"Das Zentrum der weißen Magie!…", grummelt Ydna gähnend, während ich die Bauten aus weißem Marmor bewudere. "…Endlich sind wir hier! Ich dachte schon wir würden nie ankommen!" 

In der Zwischenzeit habe ich mir auch schon einen Spaß daraus gemacht, Gebäude in Téo zu suchen, welche nicht elf Stockwerke haben.

"Dies ist der Hauptplatz von Batátu…", spricht Retsam, nachdem wir einen quadratischen, leicht überschaubaren Platz betreten haben.

Eine Putzkolonne macht sich gerade über eine aus schwarzem Marmor gefertigte Statue her, welche, zusammen mit zehn weiteren Statuen, auf einer steinernen Erhöhung in der Mitte des Platzes, steht. Bei näherem Hinsehen fällt mir auf, dass es sich offensichtlich um Inorf handelt, dem gerade die Zehen gereinigt werden.

Neugierig frage ich Retsam: "Sind das Nachbildungen vom Rat der Ältesten aus Stein?"

"Oh nein!…", seufzt Ydna, "…Jetzt geht das wieder los!"

"Gut kombiniert, Bruder!…", sagt Retsam, der sich aufgefordert fühlt, über den Rat zu erzählen und Ydnas Seufzer völlig ignoriert. "…Die Statue in erdfarbenem Marmor, da in der Mitte, ist Gaia, die Urmutter der Erde. Sie ist die Entscheidungsträgerin und Oberin des Rates. Ohne ihre Erlaubnis führt der Rat keine Aktionen aus. … Aurelius, die Statue in grünem Marmor, kennst du bereits. Er ist dafür verantwortlich, Prophezeiungen zu übergeben, sowie die Dokumente des Rates zu lesen und in seinem fotografischen Gedächtnis aufzubewahren. Früher, bevor die Talente von Aurelius vom Rat erkannt wurden, hat der Rat die Dokumente ausschließlich auf sogenannten Téoplatten abgelegt, welche im alten Archiv von Téo, dem höchsten Gebäude des Landes, aufbewahrt werden. … Inorf in schwarzem, und Sirób in weißem Marmor, sind jeweils links und rechts von Aurelius zu sehen. Sie sind zuständig für die Erstellung der Prophezeiungen. … Aikón war – du erinnerst dich an die Geschichte über das Tribunal – für den Machtausgleich zwischen Gut und Böse verantwortlich. Es ist der, in magentafarbenem Marmor. Laut den Gerüchten ist er tot."

"Ist das unser Vater?", frage ich Retsam, als ich glaube die Person aus meiner zweiten Vision als rote Marmorstatue zu erkennen.

"Ja, es ist Onicchu. Er ist Anführer der Onyiccson, sowie Hüter der weißen Magie. Gleich daneben, die Statue in gelbem Marmor, repräsentiert Ispép. Er ist der Anführer der Aloc-Mönche in Tan und Hüter der schwarzen Magie… Apropos Tan. Dort habe ich dir schon von Šéilf, hier in violettem Marmor dargestellt, erzählt. Er ist Erbauer des Mahnmales von Tan, sowie dessen Hüter…"

"Bist du jetzt endlich mit deiner Geschichtsstunde fertig?…", unterbricht Ydna, Retsams Ausführungen, grantig, "…Genau das ist der Grund dafür, warum ich die Stadt Batátu hasse! Jedes Mal, wenn wir hier sind, quasseln wir stundenlang darüber, wie toll der Rat ist. Es langweilt mich! … So, das musste mal gesagt sein. Eine Frechheit ist das!"

"Du bist nur angewidert, weil der Rat dich lange Zeit verfolgt hat!…", sagt Retsam zu Ydna. "…Keine Sorge, wir gehen ja schon!"

Retsam macht Anstalten zu gehen, als ich plötzlich unter den verbleibenden Statuen etwas entdecke.

"Warte Retsam!…", sage ich, während Ydnas Ader auf der Stirn zu pochen beginnt. "…Wer ist das in grauem Marmor? Er sieht aus wie Inorf oder Sirób. Kommt dir das auch bekannt vor? Denk an meine Vision und sieh dir seinen Stab an. Er ist jeweils zur Hälfte aus schwarzem, bzw. weißem Marmor!"

"Du hast Recht, das Detail mit dem Stab ist mir noch nie aufgefallen! Über dieses Mitglied des Rates ist mir leider nicht viel bekannt. Ich weiß lediglich seinen Namen: Ilokórb."

"Ich bin froh, dass du bei deiner Ausbildung so gut aufgepasst hast!…", sage ich zu Retsam. "…Ilokórbs Auftauchen in meiner Vision hat bestimmt eine spezielle Bedeutung!"

"Ganz bestimmt…", bestätigt Retsam, "…Dank Rébél, der in blauem Marmor, kann ich dir diese Informationen erst überhaupt geben. Er ist der Vorstand der Lehrerschaft in Téo und Hüter der Weisheit und war – du erinnerst dich an meine Erzählung in Tan – unser Lehrer."

"Und wer ist der Letzte, damit wir endlich weiterkommen?!", unterbricht Ydna zum zweiten Mal, diesmal völlig genervt.

"Èppus!…", sagt Retsam knapp. "…Über ihn weiß ich, bis auf seinen Namen leider auch nichts. Ich habe Aurelius in früher Kindheit einmal gefragt, wieso dieser in transparentem Marmor dargestellt ist, und warum man keine Gesichtszüge erkennen kann. Aurelius meinte, es habe seine wortwörtliche Bedeutung. Aber ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob man über eine Person sagen kann, dass sie transparent ist, bzw. für Transparenz sorgt."

Ydna, der das erste Mal, seit dem Retsam begonnen hat über die Mitglieder des Rates zu sprechen, Interesse an der Unterhaltung zeigt, meint: "Vielleicht ist er dafür zuständig, die anderen Mitglieder des Rates zu überwachen, oder zu kontrollieren?…"

Retsam ist verblüfft.

"…Vielleicht soll damit bewirkt werden, dass die anderen Mitglieder des Rates sich den Wesen von Téo gegenüber, oder zumindest sich untereinander fair und vor allem neutral verhalten. Gesichtslos ist er wahrscheinlich deshalb, damit ihn niemand erkennt!"

"Wie kommst du darauf?", meint Retsam zu Ydna neugierig, während wir weiter in Richtung des Dorfes Ydál gehen und die Statuen des Rates der Ältesten von Téo immer weiter hinter uns lassen.

"Ich habe gestern erwähnt, dass ich mich vor meiner Prophezeiung drücken wollte. Im Raum von Fumé habe ich sehr viel Zeit gehabt darüber nachzudenken, wieso meine Pläne den Rat auszutricksen, ständig schief gegangen sind. … Mehrmals habe ich versucht, die Ratsmitglieder gegeneinander aufzuhetzen. Es war wie verhext. Die Mitglieder wussten ständig über sämtliche Aktivitäten meinerseits Bescheid! Es war, als gäbe es jemanden, der über sämtliche Vorgänge im und um den Rat Bescheid wüsste. … Dieser Jemand sorgte sozusagen für Transparenz im Rat. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie sauer die Mitglieder auf mich waren. Jedenfalls wurde mir klar, Èppus könnte praktisch jedes Wesen sein."

Retsam und ich nicken. Das ergibt Sinn.

"Jetzt, wo wir gerade so aus dem Nähkästchen plaudern. Wem hast du, mal abgesehen von Tarator, noch das Passwort verraten?", fragt Retsam.

"Ich habe das Passwort Èleg gegeben, damit jemand da ist, der euch das Passwort geben kann, falls der Rat mich hops genommen hätte. Ich habe es zwar erhofft, aber ich wusste nicht wie gut der Raum von Fumé als Schutz funktioniert…", antwortet Ydna. "…Ich habe Èleg eingeredet, dass wahrscheinlich jemand kommen würde und nach einem Passwort fragen wird. Als Antwort müsse sie das Geheimnis um ein neues Putzmittel, welches die schwarzmagischen Aloc-Mönche verwenden, um die Straßen in Tan sauber zu halten, in Form des Schlüsselsatzes lüften."

"Sonst niemandem?", frage ich Ydna belustigt, nachdem Retsam und ich aufgehört haben, lauthals über Èleg zu lachen.

"Nein.", antwortet Ydna, verwundert darüber, wieso wir gelacht haben. Ich bringe es nicht übers Herz ihm zu erzählen, dass wir in Tan bereits etwas Ähnliches vermutet hatten.

"Wir sind bald da…", weicht Retsam schnell der nicht ausgesprochenen Frage von Ydna aus und ergänzt: "…Hinter der nächsten Kurve ist Ydál, das Heimatdorf der Onyiccson!"

In tierischer Gestalt betreten wir das Dorf. Zum ersten Mal, seit ich das alte Archiv von Téo verlassen und meine Erinnerungen verloren habe, sehe ich, dass der Rat der Ältesten von Teo, bei der Geburt von Ydna, die Hyäne als seine tierische Gestalt festgelegt hat.

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