"Falls ich jetzt nichts zu essen bekomme, werde ich den nächsten Passanten verspeisen!", sage ich zu Retsam fröhlich, denn mein Hunger ist gigantisch. Länger kann ich nun wirklich nicht mehr warten! In der getarnten Gaststätte habe ich bereits schon einmal gegessen, da spricht jetzt bestimmt nichts mehr dagegen.

"Ja, Äthyl! Gute Idee! Ich habe auch schon einen Bärenhunger. Wir sollten uns auch ausruhen. Außerdem kannst du dich auf morgen freuen, da treffen wir nicht nur Vater, sondern auch…"

"…Yks!", ergänze ich träumerisch.

Néiláti, der Wirt, öffnet die getarnte Tür. "Äthyl und Retsam! Herzlich Willkommen in der getarnten Gaststätte. Danke, dass ihr Ydna an seine Schulden erinnert habt. Er ist vor einer halben Stunde eingetroffen und hat sie zur Gänze bezahlt!"

 

Ydna ist hier? Ich dachte er müsse sich vom Rat der Ältesten verstecken. Eine Überraschung, mit der ich nicht gerechnet habe.

Wie soll ich mich ihm gegenüber verhalten? Sirób, der Wächter des Flusses der weißen Magie am Fluss Téodid, hat mir gesagt, ich sollte mir keine Gedanken machen, weil er lediglich seiner Prophezeiung gefolgt wäre. Andererseits kann ich nicht nachvollziehen, wieso er es zugelassen hat, dass er uns alle so hinterlistig hintergangen hat. Immerhin sind wir – zumindest teilt mir das mein Bauchgefühl mit – Freunde.

Ist er ein Verräter?

Über meine Prophezeiung hätte ich ihm auch nichts verraten können. Ist er auch nur eine Marionette im Plan der Vorhersehung? Hat er sich dazu bewusst entschieden böse zu sein? Wie kann ich ihn nur einen Freund nennen?

"Hallo Äthyl!…", höre ich die bekannte, verrauchte Stimme von dem Tisch aus sprechen, an dem das letzte Mal Retsam und ich gespeist haben. Es ist Ydna. Ich erkenne ihn, obwohl der Raum, in dem ich ihn zum letzten Mal gesehen hatte, sehr neblig war, sofort wieder.

"…Wie geht’s dir, mein Bester? Alles in Butter?", setzt Ydna vergnügt fort.

"Na, Ydna! … So trifft man sich wieder. …", sage ich halb zynisch, halb sarkastisch um ihm bewusst ein schlechtes Gewissen einzureden und um ihm zu zeigen, dass ich weiß, dass er das Passwort verraten hat, "…Ich hätte nicht damit gerechnet, dich je wieder zu sehen!"

"Meine Prophezeiung…", Ydna schluckt in geheuchelt, reumütigem Tonfall und hält einen Augenblick inne bevor er fortsetzt, "…Ich bin dankbar, dass ich diese bereits erfüllen konnte! Der Preis dafür war sehr hoch, dafür bin ich jetzt frei."

"Es ist keine Zeit für lange Reden…", sage ich zu Ydna, "… Du hattest, wie jedes Wesen in Téo eine Wahl! … Du hast dich für etwas entschieden! … Ich möchte es jetzt von dir wissen! … Für was hast du dich entschieden? … Für das Gute, oder das Böse?! … Bist du Freund, oder Feind?!"

Ydna starrt mich wortlos und ohne mit den Augen zu blinzeln an. Währennddessen spüre ich, wie wütend ich werde, denn auf die letzte Frage hätte ich ein, wie aus der Leg-Pistole geschossenes "Freund" erwartet.

"Ydna! … Schämst du dich denn nicht?", wirft Retsam ein.

Ich hebe meine Stimme: "Bist du der Seelenbruder, für den du dich ausgibst? Hast du dich dazu entschlossen deine wahren Freunde zu verraten? Was war der Preis dafür? Was hast du dafür bekommen? Denkst du nicht auch, dass es einfach ist, alls auf deine Prophezeiung zu schieben!? Was ist das für ein Gefühl, irgendwann völlig alleine zu sein???"

Ydna, welcher offensichtlich seine schlangenhaft, schleimige Art, welche er sonst so an den Tag legt, in Aufrichtigkeit eingetauscht hat, antwortet, als er mir tief in die Augen sieht, mit einem ruhigen: "Es tut mir leid!"

Was? Eine Entschuldigung? Keine Erklärungen oder Ausflüchte?

Es ist ruhig geworden. So ruhig wie jetzt, war es in der getarnten Gaststätte wahrscheinlich noch nie. Selbst Néiláti vergeht, obwohl es bisher so aussah, als könne ihm das nie passieren, das Lächeln. Ein unerträgliches Schweigen erdrückt den Raum. Ich warte dennoch ab.

Ydna setzt ruhig, tief in meine Augen blickend und ohne zu blinzeln, fort: "Mir ist bewusst, dass es nicht darum geht, dass das Böse, das Passwort von mir erhalten hat. Das Böse im Lande Téo hätte dies auch aus anderer Quelle erhalten können. Immerhin sind die schwarzmagischen Aloc-Mönche direkt vor Ort. Ich habe dich enttäuscht, weil ich dein Vertrauen ausgenutzt habe und zugelassen habe, dass das Böse sich in unsere Freundschaft einmischen darf…"

Ich blicke durch die Runde und stelle fest, dass alle, wie gebannt zuhören.

"…Meine Prophezeiung hat sich erfüllt… Ich habe es für dich getan!…"

Für mich? Nach wie vor wagt noch niemand, Ydna zu unterbrechen.

"…Ein Jahr, nachdem wir unsere Bitte in die Rinde des Baumes Sošáaš geritzt haben, hat mir Aurelius zu meinem elften Geburtstag eine Schriftrolle überreicht. Darin stand eine Botschaft, welche in drei verschiedenen Handschriften verfasst war. Aurelius hat mir gesagt, dass ich mir die Botschaft gut einprägen müsse, damit ich den Inhalt niemals vergessen würde…"

Die anderen nicken Ydna zustimmend zu, so, als ob es bei deren Überreichung der Prophezeiung auch so gewesen wäre.

"Ich habe mir den Text der Prophezeiung so gut als möglich eingeprägt. Die Botschaft konnte nur einmal gelesen werden. Nachdem ich sie gelesen hatte, flammte die Schriftrolle kurz auf und die Botschaft ging damit in Rauch auf…"

"Nun komm schon! Sag uns doch endlich, was auf der Schriftrolle stand!", unterbricht Retsam ungeduldig, die Erzählung von Ydna.

"…Ist ja schon gut…", meint Ydna ruhig. Mit voller Konzentration beginnt er zu rezitieren: "…Im ersten Teil der Prophezeiung stand, dass der Tag kommen würde, an dem ich dazu beitragen würde, dass die uns bekannte Welt an den Abgrund geführt werde. Ich würde stehlen, lügen und betrügen!"

"Das hast du auch mit aller Kraft gemacht!", ergänze ich sarkastisch.

"Was wäre mir denn anderes übrig geblieben? Ich habe mit aller Kraft versucht, mich vor der Prophezeiung zu drücken. Nur leider sind alle Versuche gescheitert."

"Lasst uns später darüber sprechen, ich möchte wissen, was noch in der Prophezeiung stand!", unterbricht Retsam erneut.

"All das wirst du aus tiefstem Herzen und aus Liebe zu einem Freund tun, dem es dadurch ermöglicht werden wird, die uns bekannte Welt zu retten…", setzt Ydna fort. Er atmet kurz durch und setzt ein letztes Mal an: "…Im Dritten und letzten Teil stand: Das Gleichgewicht der Mächte wird leiden: Sobald das Doppelgesicht das Ultimatum stellt und sich danach der Horizont von Grün nach Rot färbt, ist deine Pflicht erfüllt."

Wieder einmal ist es still. Sehr still.

Ydna bricht das Schweigen: "Viel wichtiger für mich ist zu wissen, ob du Äthyl, mir das alles verzeihen kannst! Ja, ich bin ein Freund. Ein wahrer Freund für dich! … Meine Prophezeiung hat sich erfüllt und ich bin sehr froh darüber, denn es war ein langer und harter Weg für mich."

Ich denke nach. Welchen Freundschaftsbruch werfe ich Ydna vor? Ich war es, der Ydna kein Vertrauen entgegengebracht hat! Wie konnte ich ihm vorwerfen, dass er mein Vertrauen ausgenutzt hätte, wenn doch ich ihm gar kein Vertrauen entgegengebracht habe. "Ydna!…", sage ich, da mir gerade bewusst wurde, welcher Verirrung ich nachgelaufen bin, "…Ich war ein schlechter Freund für dich… Mir wurde das gerade bewusst."

"Was meinst du damit?", fragt Ydna zurückhaltend.

"Tarator hat mir vor Tagen mein Gedächtnis geraubt und ich habe es dir verschwiegen, da ich entschlossen hatte, dir nicht zu vertrauen.", sage ich nicht minder zurückhaltend.

"Er hat was?!", schreit Ydna theatralisch!

Etwas übertrieben wirkt es schon, aber wenn er etwas zu erzählen hat, wird er es wohl hoffentlich ab sofort tun. Es ist sehr spät in der Nacht, als ich damit fertig bin, Ydna die bisherigen Erlebnisse zu erzählen.

"Du hast Recht! Gebunden an meine Prophezeiung hätte ich das Wissen wahrscheinlich wirklich gegen dich benutzt…", sagt Ydna. "…Ich verspreche dir, dich ab jetzt so zu unterstützen, als wäre es meine eigene Mission! … Das bin ich dir als Freund und Seelenbruder schuldig!"

"Morgen müssen wir, noch bevor die Sonne aufgeht, aufstehen. Der Weg zu Onicchu, unserem Vater, ist zwar nicht so anstrengend wie der Weg nach Tan, allerdings müssen wir, um ihn zu erreichen, die Stadt Batátu passieren.", sagt Retsam mit einem gedankenverlorenem Blick zu Ydna, kurz bevor er Anstalten macht in den ersten Stock zum Schlafen zu gehen.

Ich habe mich in der Zwischenzeit daran gewöhnt, nicht alles zu verstehen oder zu wissen, daher frage ich, besonders auch deshalb, weil ich schon sehr müde bin, nicht nach, wieso die Stadt Batátu von Ydna offensichtlich als lähmend empfunden wird. Im Großen und Ganzen reicht es mir zu wissen, dass Ydna, als der Name der Stadt genannt wurde, ziemlich gelangweilt ausgesehen und geseufzt hat.

Morgen werde ich Vater treffen. Vielleicht weiß er, wo ich den Schlüssel von Hexyl finden, und damit auch meine Erinnerungen zurückerhalten kann.

Müde folge ich Retsam und Ydna in den ersten Stock hinauf. Magda hat die Zimmer bereits vorbereitet. Fast bin ich etwas neidisch darauf, dass Ydna seine Prophezeiung bereits erfüllen konnte. Hätte ich das Ganze doch auch schon alles hinter mir.

Seelenruhig schlafe ich ein.

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