Es ist sehr früh am Morgen, als wir uns alle beim Frühstück in der Küche des Hauses unseres Vaters treffen. Der gestrige Abend war sehr informativ, aber hat offensichtlich nicht nur mich sehr intensiv zum Nachdenken gebracht. Schön war, dass mein Schlaf in der Nacht mal nicht von einer Vision gestört wurde.

Vater beendet als Erster das Frühstück. Völlig in Eile, packt er aus verschiedenen Schubladen und Kästen, Kleinigkeiten in einen Beutel. Als er sich von uns verabschiedet, ist uns allen klar, dass er sich auf den Weg zu Gaia macht.

"Äthyl! Es ist so weit!…", sagt Yks in liebevollem Tonfall zu mir, "…Wir müssen uns auch auf den Weg machen."

"Ja, meine Liebe, du hast Recht.", werfe ich ihr nach, während sie ihren Teil des Frühstücksgeschirrs in die Küche bringt.

Völlig bezaubert von ihrer Schönheit, nehme ich das restliche Geschirr ("Hey, ich esse noch!" – "Man!") in die Hände und folge ihr verträumt.

"Schau mal!", sage ich zu Yks, als sie gerade ihr Geschirr mit klarer Flüssigkeit abwäscht. Als sie sich umdreht und in meine Richtung blickt, gebe ich ihr einen herzhaften Kuss auf den Mund.

"Äthlyl!…", sagt sie belustigt, "…Schön, dass du es mir gezeigt hast! Gib mir das Geschirr, ich werde mich zwischenzeitlich gerne darum kümmern. Dann kannst du die beiden dazu überreden, sich für die Abreise fertig zu machen."

Ich lächle und drehe mich, ohne etwas zu sagen um, um in Richtung des Esszimmers zu gehen. Es ist eine harte Aufgabe, die beiden zur Abreise zu bewegen. Kein Wunder, dass Yks sich lieber um den Abwasch kümmert.

"Ja, ja! Zuerst nimmst du uns das Frühstück weg!", "Und jetzt kommandierst du uns herum!", wehren sich Retsam und Ydna, als ich sie darum gebeten habe, sich für die Reise fertig zu machen.

"Seid nicht so kindisch! Es ist ja nur eine Stunde Fußmarsch zum Archiv", versuche ich die beiden zu motivieren. Widerwillig gehen sie in den ersten Stock.

Pünktlich, nach elf Minuten, stehen wir Vier vor der Eingangstüre von Vaters Haus. Ein Löwe, ein Tiger, eine Hyäne und ein Wolf.

Genau 60 Minuten später finden wir uns vor dem alten Archiv ein. In den wenigen Erinnerungen, die ich seit Beginn meines Abenteuers habe, schwelgend, öffne ich die Tür zum alten Archiv. Der Spiegel, in dem ich mich vor ein paar Tagen betrachtet hatte, zeigt nun mich, Yks, Ydna und meinen Bruder Retsam.

"Beim Rat der Ältesten von Téo…", höre ich aus Richtung der Treppe von Aurelius rufen. "…Schön, dass ihr unversehrt bei mir angekommen seid! Habt ihr den Schlüssel von Hexyl gefunden?"

"Hallo Aurelius!", ertönt es, wie im Chor.

"…Ja, wir haben ihn…", höre ich mich selbst aus tiefster Erleichterung sprechen. "…Magda hatte ihn in ihrem Beutel, in der sie auch die Leg-Pistole hatte, und brachte den Schlüssel zu Vater. Er hat den Schlüssel als solchen erkannt und ihn mir in Ydál überreicht."

Ich öffne den Lumpenbeutel und hebe vorsichtig den Schlüssel von Hexyl heraus. "Das ist er! Der Schlüssel von Hexyl! Das Symbol…", plaudert Aurelius beinahe gedankenverloren, als ob er selbst alles rund um sich gerade vergesse hätte, "…ist einzigartig und spiegelt das Innerste deiner Seele wieder. Er ist wunderschön! Bisher habe ich davon nur auf einer der alten Téoplatten gelesen…"

Aurelius holt ebenso vorsichtig, mit seiner rechten Hand, das Solosax aus seinem Umhang und legt es behutsam in seine linke Hand. "…Lass uns keine Zeit verlieren. Gib mir den Schlüssel…", verlautbart er mit theatralischem Funkeln in seinen Augen und erwartungsvollem Gesicht. Mit den knochigen, langen, dünnen Fingern seiner rechten Hand, deutet er nun an, den Schlüssel übergeben haben zu wollen. Die Lichtreflexionen des Solosax‘ schimmern an der Wand des großen Archivs.

"…Es ist ein besonderer Moment für mich. In den tausenden von Jahren in denen ich nun lebe, hatte ich noch nie die Ehre einen Schlüssel von Hexyl mit seinem Solosax zu vereinigen…"

Ich überreiche ihm mit Spannung den Schlüssel und sehe ihm dabei tief in die funkelnden Augen. Aurelius nimmt den Schlüssel von Hexyl mit der rechten Hand entgegen und streckt seine beiden Arme waagrecht von sich weg. Von meiner Position aus gesehen, sieht er nun aus, als wäre er ein steinernes Kreuz.

Er hält inne und senkt seinen Kopf zu Boden. Mit einer ruckartigen Bewegung streckt Aurelius plötzlich seinen Kopf nach oben als würde er die Sterne am Himmel durch das Dach des alten Archivs von Teo hindurch, beobachten wollen. Langsam führt er nun seine Arme über seinen Kopf hinweg nach oben und führt den Schlüssel von Hexyl, mit dessen Oberseite voran, in die Öffnung des Erinnerungsgefäßes ein. Ein gleißend greller Schein, ausgehend vom Solosax, blendet unerträglich hell. Es wird begleitet von einem schrillen, ohrenbetäubenden Geräusch, gepaart mit Tönen, so tief, wie die vom Gesang der Bäume am Hügel nach Zarg.

Nun ist es dunkel und still. Ich kann nichts erkennen. Vor meinem geistigen Auge sehe ich plötzlich meinen Vater, aus der Perspektive eines Jugendlichen. "Du musst mir versprechen, niemandem von meiner Fähigkeit zu erzählen", höre ich.

Plötzlich verwischt das Bild vor meinen Augen. Ich sehe Yks, verhüllt in einem weißen, mit Ornamenten bestickten Kleid: "Falls Sie diese Frau zu Ihrer rechtmäßigen Frau nehmen möchten, so antworten Sie mit ja." Als ich gerade ja-sagen möchte, verwischt die Szene vor meinem Auge erneut. "In einem Jahr erhalten wir die Prophezeiung, genau in dieser Reihung!"

"Es ist das Los von jenem, der das Solosax zum ersten Mal berührt hat"

"Retsam!…", höre ich eine mir unbekannte, männliche Stimme brüllen. "…Oh ja! Wie schön!"

Als ich auf die Stimme zugehe, erkenne ich durch den Nebel der Erinnerung eine Tür, die mir den Blick versperrt. Ich blicke durch das Schlüsselloch der Türe. Im Zimmer erkenne ich meinen Bruder, als Löwen, sowie eine Hyäne. Retsam leckt zärtlich die Intimbereiche der Hyäne mit seiner mächtigen Zunge. "…Oh ja!, schreit die Hyäne voller Ekstase. Ich spüre, wie ich lächle.

"Es ist vollbarcht!…", höre ich plötzlich Aurelius ehrfurchtsvoll, wie durch Watte gesprochen, verlautbaren. "…Äthyl! Du müsstest dich wieder an alles erinnern können!" Ich öffne meine Augen. Wie aus dem Nichts erscheint plötzlich direkt vor Aurelius ein Ball aus Licht, welcher auf mein Gesicht zurast.

Schmerzlos trifft mich der Lichtball. Ein wohlig warmes Gefühl durchströmt meinen Körper. Mein Sichtfeld verwischt wieder. "Retsam, mumi tikitaki muju! Ich liebe dich so sehr!", schmachtet die Hyäne meinen Bruder an. Retsam antwortet mit sanfter Stimme: "Ich liebe dich über alles! … Ich weiß, es werden schwere Zeiten auf uns zukommen, doch mein Herz verspürt ewige Dankbarkeit dafür, dass es dich gibt!"

Währenddessen, beginnt die Hyäne damit, Retsam seine Zuneigung zu zeigen, in dem er seine rechte Vorderpfote sanft auf Retsams Bauch legt, ihn streichelt und seinen Kopf auf die riesige Löwenbrust legt. Ich bin so dankbar dafür, dass nun auch Retsam die Liebe seines Lebens gefunden hat. Aber wieso hat Retsam mir seine große Liebe nie vorgestellt?

Schlagartig öffne ich meine Augen. Sie gewöhnen sich langsam wieder an die orange-braune Idylle des Archivs von Téo, welche kurz zuvor noch durch die Lichtreflexionen des Solosax‘ durchbrochen wurde. Ich erkenne Yks, meine Frau und große Liebe. Aurelius, den Hüter des alten Archivs von Téo und Retsam, meinen Bruder.

Doch halt, wer ist das? "Wer bist du?…", frage ich einen kleinen, blonden Mann mit Halbglatze, in giftgrünem Gewand.

"Äthyl! Ich bin es, Ydna…"

Ich beginne zu lächeln, da es sich um dieselbe Stimme handelt, wie die aus dem Zimmer aus meiner Erinnerung von eben.

"…Erkennst du mich nicht? Ich…"

"Du warst es!!…", brüllt Aurelius den kleinen Mann namens Ydna an. Das Gesicht von Aurelius ist rot vor Zorn.

"…Du hast das Solosax in Äthyls Beutel gelegt und es als erster berührt, nachdem das Solosax erstellt wurde!"

"Ja, das habe ich. Tarator hat mir befohlen es zu tun! Woher weißt du das?!", brüllt Ydna zurück.

Aurelius antwortet ruhiger als zuvor, aber immer noch so, als hätte ihn eine Kleinigkeit verärgert: "Äthyl hat dich vergessen!…"

Seine Augen beginnen wie wild in den Augenhölen zu wirbeln. Monoton setzt er fort: "…Es ist das Los desjenigen, der das Solosax zum ersten Mal nach dessen Erstellung berührt hat!… Wenn ich das gewusst hätte…", spricht Aurelius nun wieder völlig ruhig, geprägt von Selbstvorwürfen, "…Äthyl, ich hätte dir alles erzählen können, ohne die Angst haben zu müssen, dass meine Informationen für dich lebenswichtige Erinnerungen kosten werden!" Verwirrt blicke ich in Richtung Aurelius.

Zögerlich beginne ich: "Mag sein, dass ich mir viel Leid und Anstrengung hätte ersparen können, aber bitte verstehe, dass ich froh und dankbar darüber bin, dass ich meine Erinnerungen fast zur Gänze wieder habe."

Ich drehe mich zu Retsam um und sage mit klarer Stimme: "ZuMitezu zum Dank hat Ydna durch die Liebe meines Bruders zurück in meine Erinnerung gefunden."

Retsam wird rot im Gesicht, spricht allerdings kein Wort. Habe ich ihn beschämt?

Ydna bricht das Schweigen: "Es wird Zeit, dass ich etwas aufkläre. Als ich klein war, haben meine Schwester Èleg und ich über die Liebe gesprochen. So hat sie im Gespräch erfahren, dass ich Retsam, aus tiefstem Herzen heraus, liebe. Als ich jung und dumm war, wollte ich diese Liebe verheimlichen und ich habe Èleg gezwungen es als Geheimnis für sich zu behalten. … Doch, sie hat geplaudert. … Tarator nutzte das Wissen um mich zu erpressen. Falls ich die Téoplatten…", er dreht sich zu Aurelius und ergänzt, dass es zwei Platten waren, "…nicht stehlen würde, würde er dafür sorgen, dass alle Geschöpfe von Téo von meiner tiefen Liebe zu Retsam erfahren würden…"

"Wie kommst du darauf, ist ja nicht schlimm!?", wirft Yks ein.

"Liebe ist doch grenzenlos!", ergänzt Aurelius schwärmerisch, der dabei offensichtlich an jemand ganz bestimmten denkt.

Wie in einer meiner Visionen sehe ich plötzlich Magda vor meinem geistigen Auge, die verliebt in Richtung Aurelius blickt.

Als Ydna wieder zu sprechen beginnt, verblasst meine Vision von Magda.

"Ja, das weiß ich nun auch! Im Nachhinein kann ich es mir selbst nur so erklären, dass für mich Liebe, wenn sie zwischen zwei Wesen stattfindet etwas tief persönliches ist, das man nicht mit allen teilen möchte. Dass das etwas Schlimmes wäre, habe ich mir von Tarator einreden lassen. Ich war so dumm! … Äthyl, woher wusstest du das eigentlich? Gibt es eine Fähigkeit von dir, die wir nicht kennen?"

"Nein Ydna, ich habe mich daran erinnert, wie schön es war, als ich durchs Schlüsselloch beobachten konnte, wie sehr ihr beide euch liebt!"

Retsam scheint seine Stimme wieder gefunden zu haben: "Du hast uns durchs Schlüsselloch beobachtet? Wieso hast du mit mir darüber nie geredet?", fragt er zaghaft.

"Es ist genau so, wie Ydna gesagt hat. Es ist eure Liebe und eure Angelegenheit, sie mit der Welt zu teilen. Und ganz ehrlich: bei so viel Liebe im Raum, konnte ich einfach nicht widerstehen hinzusehen.", antworte ich mit einem Lächeln auf den Lippen.

Die Runde stimmt in das Lächeln mit ein.

Ich bin sehr froh darüber, dass ich nicht das einzige Wesen bin, das dazu beigetragen hat, die Situation im Lande Téo zu verkomplizieren. Es ist sehr schön zu wissen, dass wir alle unsere Unzulänglichkeiten haben. Ich nehme mir in jedem Fall fest vor, viel mehr über mich und meine Unzulänglichkeiten zu sprechen, vielleicht werden andere diesem Beispiel folgen, und wir tragen so gemeinsam dazu bei uns besser zu verständigen.

"Gut, dass wir das besprochen haben!", unterbricht Aurelius meine Assoziationen. Er dreht sich zu Ydna: "Welche Téoplatten wurden von dir aus dem Archiv entnommen? Ich habe jeden Winkel des Archivs durchforstet, konnte aber nicht feststellen, welche Platten fehlen."

Ydna beginnt zu erklären: "Tarator hätte alle Platten entfernen lassen können, ohne das du gewusst hättest, welche Platten fehlen. Er gab mir ein Gefäß mit schwarzer Flüssigkeit. Weiters ein Dokument, auf dem ein Spruch stand. Er erteilte mir den Auftrag, das Gefäß anstelle der Téoplatte zu positionieren, und den Spruch zu rezitieren. Dies hatte die Auswirkung, dass die Platte am Ursprungsort dupliziert wurde und so lange dieses Duplikat niemand aus dem Archiv hätte entfernen wollen, wäre der Schwindel auch niemandem aufgefallen. … Als ich bemerkt hatte, dass sich die schwarze Flüssigkeit nach der Anwendung des Spruches nicht auflöste, kam ich auf die Idee, das Glas und den Spruch ein weiteres Mal, bei einer anderen Téoplatte, anzuwenden…"

"Jetzt komm schon! Welche Platten hast du mitgenommen?", fragt Aurelius ungeduldig.

"Um mich vor dem Rat effektiv schützen zu können, habe ich die Téoplatte mit der Aufschrift Raum von Fumé mitgenommen. Nur jene, die meinen Aufenthaltsort kannten, konnten mich darin aufsuchen. Gleichzeitig hat der Spruch der Téoplatte dafür gesorgt, dass niemand, der wusste, wo ich war, es auch weitererzählen konnte. Die Information musste aus meinem Mund stammen. Deshalb habe ich in unregelmäßigen Abständen die getarnte Gaststätte besucht, um mich mit meinen Freunden zu treffen und um mit Retsam auch alleine sein zu können…"

"Du weißt genau, dass uns diese Téoplatte am wenigsten interessiert! Weswegen hatte dich Tarator hergeschickt?", unterbricht Aurelius beinahe ungehalten.

"Ich kann dir nicht sagen, was der Inhalt der Platte war. Es ging alles so schnell! … Am höchsten Punkt des Archivs angelangt, stand plötzlich Äthyl hinter mir. Er forderte mich auf, mich umzudrehen. Im selben Moment erschien Tarator, wie aus dem Nichts, aus einer schwarzen Wolke! Mit den Worten "ZuMinom katukeš polzomio Äthyl" lähmte er Äthyl und murmelte etwas so leise, dass seine Worte kaum die Lippen verließen. Danach wurde es völlig dunkel. Plötzlich schimmerte es blau an den Wänden des Kuppelzimmers und ich konnte ein Gefäß erkennen, von dem der Schimmer ausging, sowie ein am Boden liegendes, schlafendes Baby sehen. Tarator warf mir einen Beutel zu Füßen und befahl mir, ihm die trimagische Téoplatte, sowie das Solosax in den Beutel zu legen und ihm auch alle anderen Artefakte zu geben. Gerade, als ich ihm alles überreichen wollte, hörten wir die Stimmen von Aurelius und Magda. Mit den Worten "Ich überlasse dich deinem Schicksal" verschwand Tarator ebenso, wie er aufgetaucht war und ließ mich mit Äthyl alleine. Die trimagische Téoplatte konnte er mir gerade noch vor dem Verschwinden entreißen. In Windeseile schnallte ich den Beutel auf Äthyls Rücken und nutzte die schwarze Flüssigkeit für mich selbst, um nicht entdeckt zu werden. … Das Baby ließ ich zurück. Ich hatte panische Angst davor, dass es mich durch lautes Weinen verraten könnte. Zu dem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass es der Schlüssel von Hexyl ist, der immerwährend schläft!…"

Gebannt hören alle Anwesenden zu. Aurelius scheint völlig vergessen zu haben, dass er vorhin so ungeduldig war.

"Jetzt weiß ich…", werfe ich ein, "…wieso ich mich, als ich die Treppe runtergerannt war, so fühlte, als wäre ich verfolgt worden."

"Ja Äthyl! Ich war dir dicht an den Fersen. Als du vom Strahl der Leg-Pistole getroffen wurdes, war ich froh, dass du vor mir gestanden hattest. Falls mich der Strahl getroffen hätte, wäre mein Tarnzauber aufgehoben worden. Zum Glück konnte ich so unbemerkt vorbeilaufen…"

Aurelius ergänzt: "Das unsachgemäße Berühren der Téoplatten hat den Alarm ausgelöst, deshalb sind wir gekommen."

"…Ich wartete an der Tür, und als Äthyl sie geöffnet hatte und innehielt, konnte ich an ihm vorbei und nach Hause laufen. Dort habe ich die Wirkungsweise der schwarzmagischen Flüssigkeit aufgehoben und sofort den Raum von Fumé heraufbeschworen, um mich vor dem Rat zu schützen."

Es ist ruhig.

Alle in der Runde scheinen nachdenklich geworden zu sein. Aurelius, der sich sehr zurückgehalten hat, bricht als Erster das Schweigen: "Das trimagische Phänomen…", beginnt er mit ruhiger Stimme zu rezitieren. Das altbekannte Wirbeln seiner Augen zeigt mir, dass er ab nun aus seinem Gedächtnis, den Inhalt einer Téoplatte, wiedergibt. Monoton setzt er fort: "…Das Land Téo kennt drei Mächte. Das Positive, das Negative, sowie das Neutrale, jeweils symbolisiert durch die Flüsse der einzelnen Mächte, geschützt durch deren Hüter und dessen Helfern. Das Gleichgewicht dieser Kräfte hängt voneinander ab. Sind die positiven und negativen Kräfte gleich stark verteilt, hält sich die Waage mit der neutralen Kraft. … Entsteht ein Ungleichgewicht zwischen der positiven und der negativen Kraft, schwindet die Kraft der Neutralität. Heben sich die positiven, sowie die negativen Kräfte gegenseitig auf, so entsteht ein Vakuum, welches lediglich die Neutralität, verbunden mit absolutem Stillstand, kennt…"

Aurelius‘ Augen haben sich wieder beruhigt. Er spricht völlig ruhig und entspannt weiter: "…Was kann das bedeuten?"

Ich glaube die Antwort zu kennen und beginne meine Gedanken mit der Runde zu teilen. "Tarator möchte das Gleichgewicht zwischen den Kräften verändern, um die positive, sowie die neutrale Kraft zu schwächen. In Bótan hat er, bei seinem Ultimatum mitgeteilt, all jene, die nicht mit ihm sind, zu vernichten. … Offenbar versucht er so viele Wesen wie möglich dazu zu bekommen, die Kräfte der schwarzen Magie zu nutzen, um seine Pläne der Machtverschiebung durch zusätzliches Anwerben zu untermauern."

"Daran habe ich auch gerade gedacht…", ergänzt Retsam,

"…Denke daran, was Vater dazu gesagt hat, als er über deine Visionen sprach. Tarator hatte Flüssigkeiten aus allen Flüssen entnommen. Es scheint so, als ob er auf diesem Weg unser aller Schicksal besiegeln möchte, um mit Hilfe der neutralen Kraft, die positive Kraft aufzuheben. Jetzt verstehe ich auch, wieso in deiner letzten Vision die Szene aus den beiden Flüssen ständig hin und her wechselte und zum Schluss in der Umgebung des Flusses der neutralen Kraft, Téodom, endete. Die Zukunft ist in Bewegung. Es ist noch nicht besiegelt, ob sein Plan funktionieren wird."

Aurelius blickt, als ob er nur Bahnhof verstanden hätte.

Nachdem wir ihm nun unsere Erlebnisse in Ydál und jene Teile von Vaters Monolog geschildert hatten, die wir auch erzählen durften, beteiligt er sich wieder am Gespräch: "Onicchu ist nicht umsonst der Anführer der Onyiccson. Wir müssen einen Weg finden, Tarator zuvorzukommen. Wir müssen dafür sorgen, dass Tarator seine Kräfte verliert, in dem wir die positive, sowie die negative Kraft aufheben."

"Wie sollen wir das anstellen?", fragt Yks, die offenbar genau das ausspricht, was sich in dem Moment alle gedacht haben.

Aurelius antwortet: "Nun, wir wissen durch die Téoplatte, dass die neutrale Kraft bestehen bleibt, wenn sich die beiden anderen Kräfte gegenseitig aufheben. Unsere Aufgabe ist es, nun einen Weg zu finden, die Kräfte so aufzulösen, damit sie danach wieder von selbst entstehen können. Wir brauchen etwas, das uns in die Lage versetzt, den Stillstand der Neutralität zu umgehen. … Wie Onicchu bereits festgestellt hat, wird Tarator in die beiden Brüder zerfallen und in die Sümpfe von Ras verbannt werden. Aber was wird uns die Flüsse der positiven und negativen Kräfte zurückgeben und gleichzeitig das Gleichgewicht der Kräfte erhalten?"

Eine sehr gute Frage, überlege ich, als plötzlich die Eingangstüre des Archivs durch eine orkanartige Windböe aufgestoßen wird. Eine große, weiße Wolke schiebt sich durch die Tür in den Raum. Eine liebliche Stimme ist zu hören. "Der Rat der Ältesten wurde von Gaia soeben einberufen. Sie sind alle geladen, daran teilzunehmen. Treten sie in das Wolkenportal ein, um in den Sitzungssaal zu gelangen."

Gebannt - und wie unter Hypnose - treten wir geschlossen durch die Wolke in den Sitzungssaal des Rates ein.

Ich sehe mich im Saal um. Silberne, hohe Wände grenzen den Raum ein. Auf den ersten Blick erkenne ich viele Mitglieder des Rates, im hektischen Getümmel, wieder. Alle nehmen so schnell als möglich auf farbigen Marmorstühlen platz.

Erst jetzt bemerke ich, dass ich mich nicht bewegen kann. Die Stühle haben dieselben Farben, wie die Marmorstatuen in Batátu. Im Augenwinkel kann ich erkennen, dass sich weder Retsam noch Yks, noch Ydna bewegen können. Wie angewurzelt, starren alle in dieselbe Richtung.

"Tretet näher…", löst uns Gaia mit ihren Worten aus der Starre. "…Nach nun hundertelftausendeinhundertelf Treffen des Rates ist es an der Zeit den Fortbestand der Existenz zu bestimmen und zu entscheiden, ob und wie der zukünftige Verlauf der Geschichte stattfinden wird. Vorweg, meine Lieben, möchte ich euch mitteilen, dass ich seit Anbeginn der Zeit schon sehr alt geworden bin. Trotzdem liebe ich all meine Geschöpfe so sehr, dass ich trotz aller Qualen dazu bereit bin, weiter zu lieben! … Ich habe in die Seelen von euch allen geblickt und weiß, dass es der Verdienst von jedem Individuum ist, warum ich so sehr liebe! … Onicchu hat mir zu verstehen gegeben, dass die Liebe in Gefahr ist. Manchen meiner Geschöpfe wurde sogar glaubhaft versichert, dass es ein Fehler wäre zu lieben. Manch anderen wurde glaubhaft gemacht, es wäre sogar falsch, jenes Wesen zu lieben, das man liebt! … Liebe ist grenzenlos. … Ich will nicht glauben, dass ich Wesen geschaffen habe, die selbst mich nicht lieben können. Es macht mich traurig. … Ich habe zur Kenntnis nehmen müssen, dass diese Wesen lediglich von sich selbst enttäuscht sind, den Mut verloren oder auch einfach vergessen haben zu lieben."

Sie macht eine kurze Pause und sieht verträumt an die Decke des Saals. Niemand kommt auf die Idee, etwas zu ergänzen oder zu sprechen. Es ist mucksmäuschenstill. Sie setzt fort: "Ihr erwartet von mir eine Lösung dafür, wie die Mächte der positiven, sowie der negativen Kräfte, nach deren Aufhebung wieder hergestellt werden können. … Es ist unmöglich."

Plötzlich brechen, wie auf Komando, alle Anwesenden das Schweigen. Aus dem wilden Stimmengewirr kann ich "Kann das sein?", "Sind wir nun alle verloren?", "Wird unsere Welt zukünftig vom Stillstand beherrscht?!", "Ist unsere Existenz hoffnungslos?" und "Gibt es keinen Sinn für unsere Existenz?" hören.

"ZuMitezu ma tazaúna aka arakaš, Gošópi, Saaš, Ipošóg! Wumi tikitaki puju plu puju tikitaki wumi!…", spricht Gaia mit Tränen in ihren Augen. Schlagartig ist es still, als ob jemand den Ton abgeschaltet hätte. "…Ich dachte, ich hätte euch gelehrt, dass alles nur durch die Liebe selbst entsteht! Macht euch keine Gedanken darüber, wie die Kräfte neu entstehen werden können, sondern tragt Sorge dafür, dass die Liebe sie einfach wieder entstehen lässt! Die Sitzung ist beendet!", schluchzt Gaia.

Ein lauter Knall katapultiert uns aus dem Saal. Wo bin ich jetzt? Es ist nicht das alte Archiv von Téo! Eine komische Lichtstimmung prägt die Umgebung.

"Ist jemand verletzt?", höre ich Yks durch die dichte Staubwolke, wie in Watte sprechend, fragen.

Ydna antwortet, "Mir geht es gut!"

"Mir auch!", sagt Retsam, der dabei etwas hustet.

Als sich der dichte, staubige Nebel schön langsam lichtet, kann ich erkennen, dass Aurelius nicht bei uns ist.

"Wo sind die anderen?", frage ich meine Freunde.

"Ich weiß es nicht…", greift Retsam, den anderen vor. "… Mich würde ehrlich gesagt mehr interessieren, wo wir sind! An so einem Ort war ich noch nie!"

"Ich auch nicht!", ergänzt Ydna, der mir dadurch bestätigt, dass wir zumindest nicht im Versteck von Tarator gelandet sind.

Ich bemerke, dass meine Wahrnehmung anders ist, als wie sie noch vor dem Ende des Treffens, des Rates, war.

"Seht dort! Da drüben!…", ruft Retsam, der wie wild auf etwas Großes aus Stein an der Decke zeigt. "Ist das der Sockel der Statuen in Batátu?"

"Ja!…", ruft Ydna, "…Mich haben Retsams stundenlange Monologe über die Mitglieder des Rates zwar immer genervt, aber ich habe den Sockel aus lauter Langeweile heraus so oft angestarrt, der Marmor ist einzigartig, es muss der Sockel sein!"

"Wenn dem so ist, muss hier irgendwo der Fluss der neutralen Kraft sein! Vater hat uns davon in Ydál erzählt. Nur, wo ist er?", rufe ich in die Runde.

"Da!…", schreit Yks hysterisch. "…Schaut, hier drüben! Da liegt etwas, nein, jemand am Boden! Schaut her!"

Ruckartig drehe ich mich um, um zu sehen, wohin Yks mit ihrem Finger der linken Hand deutet. Ich folge ihrem Finger und sehe etwas mit einem grauen Kapuzenmantel bedeckt, am Boden liegen. Daneben liegt ein Stab aus schwarz-weißem Holz. "Das muss Ilokórb sein. Ist er verletzt?", frage ich.

"Oh ZuMitezu, wie konntest du das nur zulassen!…", schreit Yks mit Tränen in den Augen, "Der Fluss der Neutralität ist versiegt, und Ilokòrb… Er ist… tot!"

Beim letzten Wort kann sich Yks nicht mehr auf ihren Beinen halten und sackt voller Verzweiflung zu Boden. In diesem Moment kracht es sehr laut. Der Sockel der Marmor-Statuen ist mitsamt allen Statuen durch die Decke gebrochen und auf den Boden gekracht.

"Ich habe es geschafft! Der Rat ist vernichtet!…", hören wir die hohe, piepsige, fiese Stimme von Tarator brüllen. "…Sie sind alle tot! … Ich habe die Kraft und die Macht und die Herrlichkeit, bis in alle Ewigkeit!"

Gefolgt von einem krankhaftem Lachen zeigt er mit seinem Zeigefinger der rechten Hand auf Yks, die immer noch am Boden bei Ilokórb kniet. Er ruft "Stirb!"

Ein roter Lichtblitz schießt aus seinem Finger und trifft Yks, durch den Rücken, direkt ins Herz. Reglos bleibt sie neben Ilokórb liegen. Starr vor Schreck, sehe ich wie angewurzelt zu, wie sie einfach so da liegt. "Stirb!", höre ich nochmals und Retsam fällt ebenso zu Boden. Ydna schreit: "Wie kannst du uns das antun? Nach all dem, was ich für dich getan habe!? Äthyl liebt Yks, ich liebe Retsam! Das weißt du genau!" Er rennt auf Tarator in Gestalt der Hyäne zu, als ob er ihn gleich zerfleischen wollte.

Tarator lacht verhasst und voller Hohn.

Als Ydna direkt vor Tarator angekommen ist, fällt dieser, nachdem Tarator ein leises, belustigtes "stirb" murmelt um, als ob er ein Sack, gefüllt mit Quato-Braten wäre.

Schon wieder überkommt mich das Gefühl, dass die Vorkommnisse der Szenen, die ich gerade wahrnehme, eher wie ein Traum sind und keinesfalls der Realität entsprechen können. Ist das eine meiner Visionen? Tarator erhebt theatralisch seine Stimme: "Oh, Äthyl!…", er sieht mir jetzt direkt in die Augen. "…Jetzt bist du an der Reihe zu sterben. Aus deiner Liebe heraus, wird nichts mehr entstehen können! … Stirb!"

Der gleißende Lichtblitz rast auf mich zu. Ich schließe meine Augen, um dem Tod entgegen zu treten.

"Ich sagte, die Sitzung ist zu Ende… Sieh Äthyl, deine Freunde sind schon auf dem Weg zum Wolkenportal. Du kannst jetzt gehen!", höre ich Gaia ermahnend sagen.

Ich blicke durch den Saal, und kann keinen der Fluss-Wächter sehen. Die Stühle aus schwarzem, weißem und grauem Marmor sind leer. Zu meiner Überraschung sehe ich Néiláti, den Besitzer der getarnten Gaststätte, vor einem Stuhl aus transparentem Marmor stehen.

"Es tut mir sehr leid, ich hatte gerade meine dritte Vision in Folge, seitdem ich im Archiv von Téo meine Erinnerungen verloren habe. Eine Vision, in der ich auch selbst Teil der Handlung war. Ich mache mir große Sorgen! … Gaia, kannst du uns bitte helfen? Ist es möglich, dass du uns anstelle des Archivs von Téo nach Batátu bringst? Ich habe das Gefühl, dass unsere Zeit drängt!"

"Ja, das kann ich für euch tun. Du musst aber verstehen, dass ich persönlich mich als neutrales Wesen nicht in die Vorgänge einmischen kann…"

Gaia taucht ihre beiden Hände in ein Gefäß, direkt vor sich, ein. Erst jetzt fällt mir auf, wie groß Gaia gewachsen ist.

"…Ich muss das Schicksal für uns alle annehmen, und zwar so, wie es kommt. So wurde es mir seinerzeit von ZuMitezu auferlegt. Nehmt euch jeweils eine dieser Kommunikationskugeln und ihr werdet, Kraft eurer Gedanken, miteinander verbunden sein. Schreitet nun durch das Wolkenportal, ihr werdet dort ankommen, wo ihr erwartet werdet."

Da ich mich nun wieder an den Inhalt meiner Prophezeiung erinnern kann, weiß ich, dass das Gleichgewicht der Mächte wieder gestört ist.

Falls wir Erfolg haben, werde auch ich bald meine Bestimmung erfüllt haben und davon erzählen können. Falls wir scheitern, wird Tarator uns, ich habe es in der Vision gesehen, alle töten. Selbst jene, die glauben unsterblich zu sein!

Mit einem Blick zurück zum Saal, schreite ich, nachdem ich mir meine Kommunikationskugel entgegengenommen hatte, als Letzter durch das Wolkenportal.

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