Ein staubiger und holpriger Weg!

Ich hätte nie gedacht, dass es nun, nach so vielen schönen Ländereien, Gegenden in Téo gibt, welche ich am liebsten meiden würde. Als wir die Stadtgrenze von Zarg verlassen hatten, begann die Dunkelheit, als ob jemand das Licht mit einem Schalter abgedreht hätte. Kahle Bäume stehen vereinzelt, völlig gesanglos in der Gegend herum. Ich bin sicher, sie sind tot!

Den Weg entlang sehe ich vertrocknete Büsche und dornige Sträucher. Ob die Sonne hier mal scheint? Hat sie hier jemals geschienen? Es ist beinahe so, als ob die Finsternis im Lande Téo seinen eigenen Platz erhalten hätte. In der Ferne kann ich ein großes Gebäude erkennen. Ob hier die schwarzmagischen Aloc-Mönche leben?

"Dies ist Bótan…", erklärt Retsam, "…der meiner Meinung nach schrecklichste Landstrich in Téo! Viele der schwarzmagischen Geschöpfe leben und arbeiten hier. Da sich hier die meisten Wesen der Dunkelheit verschrieben haben, hat Gaia, die Urmutter der Erde und Oberin des Rates beschlossen, die Sonne fortzuschicken. Immerwährende Dunkelheit ist das Los dieses Landstriches…"

"Was ist das, dort drüben?", frage ich Retsam.

"Das, was du da am Plateau erkennen kannst, ist die Stadt Tan. Sie wurde in diesem riesigen Gebäude errichtet. Das Plateau nennen wir Hochebene. Wir müssen dort sehr vorsichtig sein, da viele der Geschöpfe es nicht besonders gut mit Fremdlingen meinen. Du wirst sehen, dass die Bedenken wegen Ydna unser geringstes Problem sein werden. Viele hier wissen, dass wir uns der weißen Magie verschrieben haben, und das ist Grund genug für sie, uns zu töten."

"Was erwartet uns in Tan?"

"Das ist schwer abzuschätzen. Mit Ausnahme der schwarzmagischen Aloc-Mönche ist hier niemandem so wirklich bewusst, dass ein Ausgleich der Mächte unsere Welt zu dem lebenswerten Platz macht, den wir alle benötigen. Der Fairness halber, muss ich ergänzen, dass das bei uns in Ydál ähnlich ist. Ydna hat uns das Passwort zum Betreten der Stadt gegeben. Es macht Sinn ohne Umwege zu Ispép zu gehen. Er ist der Anführer in Tan und gleichzeitig Vorsitzender der Aloc-Mönche. Ich bin sicher, dass Ydna das Passwort weitergegeben hat. Falls er das Passwort Èleg gegeben hat, dürfte nicht allzu viel passieren, da sie es wahrscheinlich für ein außergewöhnliches Putzmittel hält. Das Portal von… Was war das?!"

Ein lauter Knall, wie von einer Explosion, lässt uns erstarren!

Am Horizont, dort, wo gerade noch die Stadt Tan zu sehen war, steigt eine riesige Säule aus grünem Licht in den Himmel. Die gesamte Umgebung wird dadurch erhellt. Das Licht ist so stark, dass es im ersten Moment dafür gesorgt hat, dass ich die Stadt, einen Augenblick lang für verschwunden hielt.
Schön langsam gewöhnen sich die Augen an das Licht.

"Bewohner von Bòtan! Baš LuAko ójokodiš, bajokowa ane pipoqa! – soeben hat das neue Zeitalter begonnen…", hören wir eine Stimme über das Land hinweg schallen. Eine Stimme, die ich bestimmt schon einmal gehört habe, ich weiß es!

"…Es wird Zeit! Schon bald werde ich die Verteilung der Macht in die Hand nehmen und somit zu meinen Gunsten den Kampf zwischen der Helligkeit und der Dunkelheit entscheiden! Ich werde den Rat zerstören, sowie die weiße Magie vernichten! … Ich, meine Brüder und Schwestern der schwarzen Magie, werde euch in das neue Zeitalter führen! In das Zeitalter, in dem das Böse triumphiert! … Ja! Nur das Böse existiert! … Schon bald werde ich Téodex, den schwarzen Fluss, dazu benutzen um meine Macht zu verstärken! … Ich lasse euch die Wahl. Ihr könnt sterben, oder im Zeitalter der Dunkelheit mit mir gemeinsam regieren! Ihr habt elf Tage! Entscheidet Euch!…"

Mit einem grauenhaften Lachen beendet die Stimme die Ansprache. Die Lichtsäule beginnt damit um die eigene Achse zu rotieren. Ich weiß nun, wer die Ansprache gehalten hat! Dasselbe Wesen, welches in meiner Vision ebenso schrecklich gelacht hat: Tarator!

Retsam und ich laufen – in tierischer Gestalt – wie wild auf die Stadt Tan zu! "Ich hoffe, es ist niemandem etwas passiert…", brüllt Retsam. Schwer nach Luft ringend, setzt er fort: "…Wie hat es Tarator nur geschafft in die Stadt zu kommen? Die Einwohner von Tan verlassen diese nie! Besuch von außen bekommt das Passwort entweder vom Portal selbst, oder direkt von Ispèp, dem Anführer des Aloc-Ordens und einzigem, der die Stadt aus diplomatischen Gründen verlässt! … Abgesehen davon…"

"Ich habe zwar mein Gedächtnis verloren, aber du weißt, genau so wie ich, dass Ydna das Passwort ans Böse verraten hat! Mir ist egal, wieso du ständig Ausreden für ihn suchst, viel wichtiger ist jetzt zu Ispép zu kommen!"

Das Licht wird immer greller, je näher wir, der Hochebene von Bótan und der darauf befindlichen Stadt Tan, kommen.

"Ist das ein Schutzschild? Können wir hindurch?", frage ich Retsam, schwer außer Atem.

"Keine Ahnung! So etwas sehe ich zum ersten Mal… Komm, wir versuchen mal den Stein dort drüben gegen die Lichtwand zu werfen. Wenn er durchfällt, dann besteht zumindest eine Chance, dass wir hier unbeschadet hindurch können!"

In Menschengestalt versuchen wir gemeinsam den von Retsam anvisierten Stein gegen den Lichtwall zu schleudern. Der Stein prallt ab, als ob wir versucht hätten ein Stück Brot gegen eine Felswand zu werfen. Ich zermartere mir mein Gehirn darüber, wie wir da durch kommen. Die Wand aus Licht hat es in sich!

"Vielleicht…", so Retsam, "…sollten wir entlang der Stadtmauer nachsehen, ob es Stellen im Lichtwall gibt, die durchlässig sind!"

"Gute Idee!"

Wir laufen, so schnell wir können, in tierischer Gestalt, los. Nach hunderten von Metern entdecken wir eine Stelle, welche verhindert, dass der Lichtwall den Boden berührt.

"Sieh, hier ist eine Stelle! Etwas lenkt den Lichtwall ab!", quält sich Retsam, völlig außer Atem.

Ein großer Steinbogen hält das Licht davon ab, den Boden zu berühren und ermöglicht uns den Durchgang zur Innenseite des Walls. Nicht weit des Durchgangs erreichen wir den Zugang zum Portal von Tan. Starke Winde, erzeugt vom Lichtwall, machen es uns schwer über die zum Portal hinreichende Hängebrücke zu waten. Schon so mancher Besucher scheint von der Brücke gestürzt zu sein. Eindeutige Überreste, wie Gebein, Waffen und Schädelknochen, lassen mich dies wahrnehmen. 

Wenige Augenblicke vergehen und Retsam und ich stehen vor dem Portal von Tan. Eine leise, piepsige, quietschfidele Stimme haucht: "Ihr habt drei Versuche mir das Passwort zu nennen. Liegt ihr falsch, werde ich einen Versuch abziehen. Bei drittem Versuch – und falscher Antwort – seid ihr des Todes! … Bei korrekter Antwort, lasse ich euch ein!"

"Zum Glück wissen wir das Passwort!", sage ich zu Retsam!

"Dein genanntes Passwort ist falsch! Du hast noch zwei Versuche!", höhnt das Portal!

Mist! Ich könnte mich selbst ohrfeigen! Das Portal nimmt das ganz schön genau mit den Antworten. Ich hoffe, Retsam sagt jetzt nichts darauf. Was hat Ydna gesagt, wie war das Passwort?! Komm schon! Konzentrier dich!!

"Gošópi", verlässt meine Lippen. Nichts passiert.

Ob das Portal von Tan noch etwas erwartet? Es lässt sich sehr lange Zeit um zu antworten. Viel länger, als beim ersten Versuch, obwohl das keine Kunst ist.
Irgendetwas war da noch, was Ydna gesagt hatte. Ich weiß, da war noch mehr!

"Dein Passwort ist falsch. Du hast einen letzten Versuch bevor ihr beide sterben dürft!", piepst das Portal belustigt.

Jetzt wird es knapp. Der genaue Wortlaut… Ich benötige den genauen Wortlaut! Plötzlich fällt mir der Satz von Ydna wieder ein!

Soll ich es riskieren? Ich sehe Retsam fragend an. Er zuckt ratlos mit den Schultern, nickt aber dann doch hoffnungsvoll, ohne ein Wort zu sagen. Ich nehme all meinen Mut zusammen und spreche den vollständigen Satz von Ydna aus: "Gošópi, aus der Sprache der Aloc-Mönche in Bótan!"

"Tretet ein, auch wenn ihr Feinde seid! Ihr habt das Passwort genannt und es ist korrekt!", sagt das Portal genau so piepsig wie zu vor, aber offensichtlich maßlos darüber enttäuscht, uns nicht umbringen zu dürfen. "Um die Stadt wieder verlassen zu können, merke dir das Passwort, UM WIEDER GEHEN ZU KÖNNEN!"

Wortlos treten wir als tierisches Selbst in die Stadt Tan ein. Im Gegensatz zum Landstrich außerhalb der Stadt, ist der Teil innerhalb der Mauern, voller Leben. Ein buntes Treiben, denke ich, während mein Blick über das Getümmel hinweg streift. Kaum zu glauben, dass hier großteils nur Anhänger der schwarzen Magie leben sollen.

Die Innenseite der Mauer, welche von außen wie die eines Gebäudes aus Stein wirkt, ist innen aus purem Gold. Liebevoll erarbeitete Reliefs, zeigen bei näherem Hinsehen, detailgetreue Nachbildungen von Menschen vergangener Tage. Dort, wo in freier Natur der Himmel wäre, befindet sich eine Decke, welche tiefe Nacht zeigt. Mit einem Halbmond und unzähligen Sternen. Die kalte Steinmauer von außen ist nicht zu sehen.

Verträumt blicke ich hoch.

"Gefällt sie dir?", fragt Retsam, der mich dabei in meinem Tagtraum unterbricht.

"Ja, sie ist wunderschön!", sage ich verträumt.

Retsam beginnt zu erzählen: "Das ist die außergewöhnliche Decke von Tan. Ein Produkt der schwarzen Magie. Sie wurde, unter der Genehmigung des Rates, von einem schwarzmagischen Aloc-Mönch Namens Gnilwór errichtet, um den Leuten von Tan ein Leben, wie in freier Natur, zu ermöglichen. … Die Decke zeigt den Tag, sowie auch die Nacht. Auch Regen und Schneefall sind Witterungen, die von der Decke erzeugt werden können. Der Zauber der Decke nutzt den natürlichen Tag-Nacht-Wechsel und ergänzt Witterungen, indem sie die Gefühle der Einwohner von Tan analysiert. Momentan scheint die Stimmung klar und friedvoll zu sein…"

Ich wende den Blick von der Decke ab. Erstaunt blicke ich die Hauptstraße entlang und stelle fest, dass diese, im Gegensatz zur Außenwelt, staub- und schmutzfrei ist. Ob die schwarze Magie dies auch bewerkstelligt?

" …Die gesamte Stadt wurde, mit Ausnahme der Decke, sowie dem Mahnmal von Tan, von Ispép errichtet, ohne dabei auch nur einen einzigen Stein mit den Händen zu berühren. Unser Lehrer Rébél, der Hüter der Weisheit und auch Mitglied des Rates, hat uns das damals alles im Unterricht erzählt…"

Beeindruckend! Unglaublich, dass die schwarze Magie so bösartig sein soll, wenn man bedenkt, welch wunderbare Dinge damit vollbracht werden können: "Das Gebäude da vorne sieht gar nicht so aus, wie die anderen. Ist dies, das Mahnmal von Tan?", frage ich Retsam.

Tiefschwarz, ähnlich gefärbt wie der Fluss Téodex, ragt es mit zweiundzwanzig Stockwerken in der Ferne empor.

"Ja, es ist das Mahnmal. Auch wenn es so aussieht, es ist kein Gebäude. Es wurde von Šéilf – Mitglied im Rat und Hüter des Mahnmals – errichtet, um die Besucher der Stadt Tan daran zu erinnern, wie wichtig es ist, dass ein Gleichgewicht zwischen den Mächten besteht, um den Frieden in unserer Welt zu erhalten. Er erwählte die Stadt Tan deshalb, da hier die meisten Anwender der schwarzen Magie leben. ... Diese Art der Magie ist sehr verführerisch! Viele Leute denken, dass sich damit alles relativ schnell und einfach lösen lässt…"

Ich fühle mich ertappt. Ja, ich habe sie auch gerade sehr bewundert und hätte nebenher beinahe vergessen, wieso diese schwarze Magie genannt wird. Unglaublich, wie verführerisch sie ist!

"…In frühen Tagen unserer Gesellschaft herrschten harte Machtkämpfe zwischen der weißen und der schwarzen Magie. Es dauerte sehr lange, bis die Gesellschaft in Téo erkannte, dass nur ein gesunder Machtausgleich Frieden bringen kann, und dies nur mithilfe der unbefangenen Neutristen möglich ist. … Viele, die anderer Ansichten sind, egal ob sie Anwender der weißen oder schwarzen Magie sind, haben versucht das Mahnmal zu zerstören, um den Machtausgleich in Vergessenheit zu bringen, und um ihre Interessen, auch mit Gewalt, durchzusetzen. … Šéilf hat sich dazu verpflichtet, das Mahnal zu schützen und notfalls auch zu verteidigen. Er musste dies in der Vergangenheit sehr oft tun. Die goldenen Reliefs erzählen davon."

"Ist man zu schwarzer oder weißer Magie geboren? … Ist es einem in die Wiege gelegt, gut oder böse zu sein?", frage ich Retsam, während wir das Ende der Hauptstraße erreichen. Die Hauptstraße, welche uns vom Portal, am Mahnmal vorbei, in Richtung Kloster bringt, mündet in einen großen, runden Platz, auf dem sich viele verschiedene Wesen tummeln. Ein Marktplatz! Das bunte Treiben lenkt mich etwas von meiner soeben gestellten Frage ab. So viele Leute auf einem Fleck! Es wird reger Handel mit magischen Gütern betrieben. Ein Treffpunkt der schwarzmagischen Welt? An einem der Marktstände wird Quato-Braten gegessen, an wieder einem anderen wird in ausgelassener Stimmung etwas mit Zotelwein begossen. Ich bekomme Hunger.

Kaum zu glauben, dass vor kurzem noch Tarator, wie verstärkt aus tausend Stimmen, über dem Platz seine Ansprache verkündet hat. Die Leute hier scheint das nicht beeindruckt zu haben. Das Wetter, erzeugt von der Decke, müsste sonst anders aussehen.

"Nein…", sagt Retsam, während ich vor lauter Hunger fast meine Frage von vorhin vergässen hätte, "…es ist jedem Wesen in Téo freigestellt, sich für eine der zwei Seiten zu entscheiden. Lediglich die Neutristen sind dazu geboren, neutral zu sein. Sie haben sozusagen keine Wahl, da sie nicht im Stande sind, sich für eine Richtung zu entscheiden. … Es wird bald Zeit für uns in das Kloster zu gehen. Vielleicht hast du es schon gesehen, es ist das große, runde Gebäude in der Mitte des Platzes."

"Ja mein Bruder…", sage ich zu Retsam, "…das habe ich, "Das ist irgendwie komisch! Die Leute hier scheinen überhaupt nicht davon beeindruckt zu sein, dass Tarator gerade noch ein Ultimatum verkündet hat. Eigentlich bin ich sehr hungrig. Ich denke, wir sollten etwas essen, bevor wir ins Kloster gehen."

"Äthyl…", sagt Retsam etwas genervt, "…In der Stadt Tan wird jeden Tag irgendein Ultimatum gestellt. Die Leute sind das hier gewöhnt. … Es ist nicht ratsam in der Stadt Tan etwas zu essen. Ich möchte niemandem etwas unterstellen, aber wir sind Wesen der weißen Magie und sollten kein Risiko eingehen. Du selbst hast mich früher immer wieder davor gewarnt, hier etwas anzunehmen."

"Gut, dann lass uns zuerst in das Kloster gehen um Ispép zu suchen. Der Schlüssel von Hexyl ist wichtiger.", sage ich zu Retsam, obwohl mein Magen gerade so laut geknurrt hat, dass ein Hund in meiner Nähe zurück knurrte.

Wir schlängeln uns also durch eine Reihe von Marktständen, um das kreisrunde, kugelförmige Kloster zu erreichen. Es führt eine lange, steinerne Treppe hinauf. Oben angekommen, sehen wir nun die ganze Pracht der Stadt.

Über der Tür des Klosters, am Türrahmen angebracht, stehen drei Worte, in goldenen Buchstaben:

GOŠÓPI – SAAS – IPÓŠOG

Was das wohl bedeuten mag?

Wenn nicht mal Ydna die Bedeutung des Wortes Gošópi kannte, dann habe ich es wahrscheinlich auch nicht gewusst. Aber irgendwo habe ich das schon einmal gehört. Ich weiß es! Wenn ich mich bloß daran erinnern könnte!

Ich weiß nur, dass ich beim Klang der Worte an etwas Wunderbares denken muss, denn die Worte liegen mir süß im Ohr. Am besten frage ich einfach Ispép sobald ich ihn sehe. Retsam geht voran, er scheint den Weg zu kennen. 

Nach Durchschreiten des Einganges wird es schlagartig dunkel. Die einzige Lichtquelle ist ein breiter, am Boden befindlicher Strom aus weißer Flüssigkeit.

"Es ist der Fluss Téodid…", höre ich Retsam sprechen, ohne ihn dabei auf Grund der Finsternis zu sehen. "…Es ist der weiße Fluss, und der zweite, magische Strom unseres Landes."

Je näher wir dem Fluss Téodid kommen, desto besser wird die Sicht auf alles in meiner Nähe. "Ist der, den ich da sehe, auch ein Ältester?", frage ich Retsam, nachdem ich am Ufer des Flusses ein in weiß gekleidetes Wesen erkenne.

"Ja, Äthyl, einer der Neutristen. Es handelt sich hier um Sirób. Er ist, wie du bereits zweifellos vermutet hast, der Hüter des weißen Flusses. Er wird uns über den Fluss geleiten."

"Ich habe euch erwartet!…", spricht Sirób langsam, als wir vor ihn treten. Er sieht aus, als wäre er ein Negativ-Foto-Abzug von Inorf. Auch er hat elf Zehen, seine sechste Zehe ist jedoch am linken Fuß.

Geheimnisvoll spricht er weiter: "…Ich sehe, meine schlimmsten Visionen haben sich erfüllt… Äthyl… Du bist mit deinem Bruder gekommen, um den Schlüssel von Hexyl zu finden… Ich habe es gesehen… Inorf… es wird ihm nichts geschehen… Mach dir darüber keine Gedanken. … Bald schon, werden auch deine Visionen deutlicher. Viel deutlicher! … Dir fehlen die Erinnerungen. … Ich habe es vorhergesehen. … Stell keine Fragen, ich werde sie dir nicht beantworten. … Die Prophezeiung! … Ich habe dem Rat mein Versprechen gegeben. … Ydna… Er hat unsere Welt in Unheil gestürzt… Es hat so kommen müssen! … Der Rat hat es gewusst. Es war Bestimmung! … Er hat seine erfüllt… Es war so geplant! … Mach dir keine Vorwürfe!
… Der Vater! … Behalte das Passwort UM WIEDER GEHEN ZU KÖNNEN! ...  Inorf hat es bereits gesagt!"

Sirób nimmt seinen grauen Stab und deutet auf die Oberfläche der weißen Flüssigkeit und zeigt damit, dass wir nun über den Fluss gehen sollen. Ohne ein Wort zu sagen, überqueren wir den Fluss!

Auf der anderen Seite angekommen, hören wir Sirób nachröcheln: "Ich bin nicht im Stande dir zu Antworten… Es ist mir nicht möglich! … Behalte das Passwort, UM WIEDER GEHEN ZU KÖNNEN! … Sonst seit ihr des Todes!"

Wirre Gedanken durchstreifen meinen Kopf. Schön langsam sollte ich es zwar gewohnt werden, trotzdem habe ich immer noch meine Schwierigkeiten damit: Er sagt, er könne meine Fragen nicht beantworten. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass er mir mehr beantwortet hat, als ich fragen wollte. Macht es Sinn die Fragen zu den Antworten zu suchen?

Die Vision von letzter Nacht zeigte, dass Tarator, Inorf in den schwarzen Fluss gestürzt hat. Er wird also daran nicht sterben. Ich bin sicher, dass Inorf und Sirób, mir auf ihre Art mitgeteilt haben, dass es Teil von Ydnas Prophezeiung ist, sich so zu verhalten, wie er es getan hat. Sofern er es war, der das Passwort verraten hat, musste es also so geschehen. Nur, wieso sollte ich das Passwort vergessen? Hat das Portal von Tan – unbemerkt – ein neues Passwort festgelegt? Wollte mich Sirób drauf hinweisen? Falls ja, wie lautet das neue Passwort? Hat es, ähnlich wie beim ersten Passwort mit der genauen Formulierung des Satzes zu tun? Kann Ispép mir die Frage beantworten? Er soll der Einzige sein, der das Passwort immer kennt. Und was bedeuten die goldenen Worte am Eingang des Klosters? 

Es ist dunkler geworden, seit wir den Fluss Téodid immer weiter hinter uns gelassen haben. Zappenduster!

"Wir sind da…", sagt Retsam, "…Hier treffen wir Ispép und die Mönche des Aloc-Ordens. Bevor wir in die Halle der Mönche gehen, muss ich dich darauf hinweisen, dass du den Blick von ihnen abwenden musst. Die Mönche sehen es als äußerst unhöflich an, wenn du ihn direkt in die Augen siehst. Am besten treten wir in menschlicher Gestalt ein, da die Mönche die Sprache der Tiere nicht sprechen oder verstehen können. Sprich nur, wenn du gefragt wirst! Antworte so wahr und so knapp wie nur möglich. Die Mönche sind keine Freunde von langen Unterhaltungen, dafür von extrem langen Monologen! … Bist du bereit?"

Als ich mit dem Kopf nicke, öffnet Retsam die Tür zur Halle. Ich senke meinen Blick und sehe gerade noch, dass nun alle Blicke der Mönche auf uns gezogen sind. Absolute Stille begleitet uns, während wir in die Mitte des kahlen, schwarzen Raumes gehen.

"Ihr seid gekommen…", höre ich eine sehr tiefe Stimme aus der Mitte des Raumes, welche durch ein leichtes Echo begleitet ist. Weder Retsam noch ich sagen etwas. Im Augenwinkel kann ich erkennen, dass auch Retsam nach wie vor seinen Kopf gesenkt hält, "…um den Schlüssel von Hexyl zu suchen. Ihr seid zu zweit. Dies bedeutet, dass die Vorhersagen eingetroffen sind. … Du hast deinen Bruder mitgebracht. Ein wahrer Freund und Wegbegleiter! … Der Schlüssel, den ihr bei mir zu finden erhofft, hat den Platz gewechselt. Dieser war aber nie bei uns. … Die Zeiten haben sich geändert. Der Rat hat festgestellt, dass auch du, Äthyl, die Regeln des Rates nicht mehr befolgen muss. Es ist, als ob du nie eine Prophezeiung erhalten hättest. … Zwei Wesen, ein Vertreter der schwarzen Magie, sowie ein Vertreter der weißen Magie, müssen sich nun nicht mehr an das Gesetz des Rates halten! … Das Machtgleichgewicht ist, auch wenn es von Tarator nicht beabsichtigt war, durch Entnahme deiner Erinnerungen wieder hergestellt worden. Allerdings, wird Tarator mehr an Macht gewinnen! Er sucht nach Anhängern, indem er andere anwirbt! … Ihr befolgt die Gepflogenheiten der Aloc-Mönche. Ihr wendet eure Blicke ab und stellt keine Fragen. … Ich weiß, dass ihr tiefen Respekt gegenüber allen Lebewesen verspührt, unabhängig davon, ob diese gut oder böse sind. … Äthyl, du hast erkannt, dass du derjenige bist, der unserer gemeinsamen Welt dazu verhelfen wird, dass die Stärke der Macht wieder gleichmäßig unter den Anwendern verteilt sein wird. … Deshalb gewähre ich dir jetzt zwei Fragen. Überlege gut und entscheide weise! Enttäusche mich nicht."

Ist das alles? Zwei Fragen? Ich hätte erhofft, mehr Fragen stellen zu können! Nur, was frage ich ihn? Was ist wichtig genug, beantwortet zu werden? Vielleicht sollte ich Fragen stellen, die meiner persönlichen Mission – Äthyl, der ich mal war und wieder sein möchte – dienlich sind? Ist dies überhaupt meine Mission?
Wahrscheinlich ist es wichtiger, solche Fragen zu stellen, die der Gesamtheit der Wesen von Téo nützen. Goš! Ist das schwierig! Erschwerend kommt noch hinzu, dass die Fragen kurz und bündig gestellt werden müssen, denn es gehört ja zu den Gepflogenheiten. Ist es wirklich wichtig, wo sich der Schlüssel von Hexyl befindet?

Ich hebe leicht den Kopf, ohne Ispép dabei in die Augen zu sehen und beginne zaghaft, meine erste Frage zu formulieren: "Wie kann ich die Neutristen unterstützen?"

Ispép denkt sehr lange über die Frage nach und antwortet: "Eine sehr weise Frage, genau so, wie ich sie von dir erwartet habe. Geh zu deinem Vater!"

Fast enttäuscht, keine ausführlichere Antwort bekommen zu haben, nehme ich die Antwort zur Kenntnis. Ich werde immer neugieriger. Soll ich jetzt fragen, wieso ich zu meinem Vater gehen soll? Besser nicht, ich werde es ohnehin erfahren, sobald wir in Ydál angelangt sind. Was ist mit der Bedeutung der Worte am Eingangstor? Macht es Sinn dies zu erfahren, wenn es eventuell wichtigere Fragen gibt, die beantwortet werden müssen? Weise sollte die letzte Frage sein!

Ich lasse von meinen Gedanken los und verlasse mich auf mein Herz. "Wie lautet das aktuelle Passwort für das Portal von Tan?", frage ich Ispép, in der Hoffnung, dazu den ersten Schritt machen zu können, welcher notwendig ist, um meine Mission zu sichern. Was hilft es, wenn wir sterben, bevor wir die Stadt verlassen?!

"UM WIEDER GEHEN ZU KÖNNEN!", antwortet Ispép knapp. Ich antworte: "Ja, um wieder gehen zu können.", antworte ich ihm.

Ispép reagiert, obwohl ich mir keiner Schuld bewusst bin, sehr zornig: "Schweig! Du hast nicht zu sprechen, ohne das du gefragt wurdest! Geh jetzt zu deinem Vater, deine Anwesenheit ist hier nicht mehr erwünscht!"

Schweigen tritt ein. Verwirrt sehe ich zu Retsam. "Das war doch eine Frage, oder nicht?!", denke ich verwundert. Ohne ein Wort zu sagen, drehen wir uns in Richtung des Ausgangs um, und gehen hinaus.

Nachdem wir nun die Halle verlassen haben, den Fluss Téodid überquert, den Eingang des Klosters, den Marktplatz (ohne etwas zu essen, diesmal knurren mehrere Hunde zurück) passiert und nun gut 100 Meter vor dem Portal von Tan auf der Hauptstraße aufgrund eines vorbeifahrenden Gefährtes zum Anhalten gezwungen waren ("Passt doch auf, ihr Idioten! Das ist eine Straße!!"), bricht Retsam das Schweigen.

"Was sollte das jetzt? Ich dachte, Ispép hätte dich gefragt, ob du das Passwort zum Verlassen der Stadt meinst?! … Aber jetzt wird mir einiges klar! Das Portal hat das Passwort in diesen Satz geändert."

"Um wieder gehen zu können?"

"Ja, genau. Dieses miese Portal! … Ispép hat uns einige unserer Vermutungen bestätigt und ich denke, dass die Frage nach dem Passwort die weiseste Frage war, die du überhaupt stellen konntest. Zumindest hilft uns deine Frage, die Stadt Tan zu verlassen, und wir müssen vielleicht erst außerhalb der Stadt sterben!"

Wir sehen uns beide tief in die Augen und beginnen herzhaft zu lachen. Trotz all der schrecklichen Dinge, die in den letzten Tagen passiert sind, haben wir wenigstens unseren Humor nicht verloren. Wieder einmal stehen wir, ohne ein Wort zu sagen, mucksmäuschenstill, vor dem fiesen Portal.
"Wie lautet das Passwort?…", fragt die leise, piepsig, hämische Stimme des Portals, "…Ich erkenne euch wieder! Ihr habt heute schon zweimal falsch geantwortet. Euch bleibt also nur ein Versuch!"

Jetzt bloß nichts darauf sagen. Dieses fiese Portal will nur eine Aussage provozieren, um uns töten zu können! Schnell antworte ich mit: "Um wieder gehen zu können!"

"Auf Wiedersehen, ihr weisen Männer der weißen Magie!…", sagt das Portal, offensichtlich maßlos darüber enttäuscht, dass wir wieder überlebt haben, "…Seit vorsichtig, ich hoffe, dass euch etwas… öööhm… ich meine nichts passiert!"

Während Retsam und ich uns noch über das hinterlistige Portal lustig machen und uns fragen, welcher Teil von "seit vorsichtig, ich hoffe, dass euch etwas… öööhm… ich meine nichts passiert" nun das neue Passwort sein könnte, genieße ich zum ersten Mal, seit ich meine Erinnerungen verloren habe, den Fakt, dass ich am Leben bin.

Die Tatsache, dass der Lichtwall zwischenzeitlich seine Farbe von Grün nach Feuerrot verändert hat, scheint uns völlig egal zu sein. Retsam hat mir erzählt, dass die Stadt Tan ständig bedroht werden würde. Aus unerfindlichen Gründen ist mir völlig klar, dass es vielleicht besser ist, wenn manche Wesen sich ihr Gefängnis selbst aussuchen.

Den Schlüssel von Hexyl konnte mir der Neutrist Ispép zwar nicht geben, aber er hat mir dennoch sehr viel über mich selbst verraten können. Natürlich erhoffe ich mir, mehr von meinem Vater zu erfahren. Vielleicht weiß er, wo der Schlüssel von Hexyl zu finden ist. Retsam meint, dass wir zu Fuß einen Tag bräuchten, um zu Vater zu gelangen. Auf dem Weg nach Ydál liegt die getarnte Gaststätte.

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